Nach dem Frühstück ging Tessas Mutter nach oben in ihr Arbeitszimmer. »Komm und sag Bescheid, wenn du mich brauchst«, sagte sie, doch Tatsache war, dass Tess in den letzten Tagen weniger von ihrer Mutter gesehen hatte als üblich. Irgendetwas passierte gerade bei ihrer Arbeit, es hatte etwas mit dem Subjekt zu tun. Das Subjekt verhielt sich seltsam. Einige Leute meinten, das Subjekt sei vielleicht krank. Dieses Problem nahm ihre Mutter vollauf in Anspruch.
Nach wie vor im Nachthemd, blieb Tess noch eine Weile im Wohnzimmer sitzen und las. Das Buch hieß Aus dem Sternenhimmel. Es war ein Kinderbuch über die Sterne, darüber, wie sie sich gebildet hatten, wie aus alten Sternen neue entstanden, wie Planeten und Menschen aus ihrem Staub herauskondensierten. Als ihre Augen müde wurden, legte sie das Buch weg und sah zu, wie der Schnee sich an der Glasschiebetür auftürmte. Die Mittagszeit kroch heran, aber der Himmel war noch immer dunkel und verschleiert. Sie hätte sich ein Sandwich zum Lunch machen können, aber sie befand, dass sie keinen Hunger hatte. Sie ging nach oben, zog sich an und klopfte an die Tür ihrer Mutter, um ihr zu sagen, dass sie für eine Weile nach draußen gehen wolle.
»Dein Hemd ist schief geknöpft.« Ihre Mutter kam in den Flur und machte sich an ihrer Kleidung zu schaffen. Schließlich zerzauste sie Tessa ein bisschen die Haare. »Geh nicht zu weit weg.«
»Ist gut.«
»Und klopf deine Stiefel ab, bevor du wieder reinkommst.«
»Mach ich.«
»Schneehosen, nicht nur die Jacke.«
Tess nickte.
Sie fand es aufregend, nach draußen zu gehen, auch wenn sie dafür erst einmal im warmen Flur stehen und sich schwitzend in ihren Schneeanzug zwängen musste. Der Schnee war so tief, so gewaltig, dass sie das dringende Bedürfnis empfand, ihn von Nahem zu sehen und zu fühlen. Über Nacht, dachte Tess, war die Welt vor der Haustür ein anderer und viel seltsamerer Ort geworden. Als sie ihre Stiefel fertig zugeschnürt hatte, trat sie nach draußen. Die Luft selbst war nicht so kalt, wie sie erwartet hatte. Es fühlte sich gut an, sie tief in die Lunge zu saugen und anschließend in Dampfwolken wieder auszustoßen. Aber der frisch fallende Schnee war nun klein und hart, überhaupt nicht mehr sanft. Er biss in die Gesichtshaut.
Häuserreihen zogen sich rechts und links von ihr die Straße entlang. Nebenan war Mrs. Colangelo dabei, ihre Auffahrt freizuschaufeln. Tess tat so, als würde sie sie nicht bemerken, sie befürchtete, Mrs. Colangelo könnte sie bitten, ihr zu helfen. Aber Mrs. Colangelo achtete gar nicht auf Tessa und schien, mit rotem Gesicht und zusammengekniffenen Augen, ganz in ihre Tätigkeit versunken, als wäre der Schnee ihr höchstpersönlicher Feind. Weiße Wolken stoben vom Schaufelblatt und zerstreuten sich im Wind.
Der unberührte Schnee auf dem Rasen vor dem Haus reichte fast bis zu Tessas Schultern. Ich bin klein, dachte sie. Ihr Kopf ragte nur so gerade eben über die aufgehäuften Dünen hinaus, sodass sie das Gefühl hatte, nicht größer zu sein als ein Hund. Hundeaussicht. Sie unterdrückte einen Impuls, ins Weiße hineinzuspringen, ganz einzutauchen. Sie wusste, dass der Schnee in den Kragen ihrer Jacke rutschen würde, und sie müsste dann viel schneller wieder ins Haus gehen.
Stattdessen stapfte sie in großen schwerfälligen Mondschritten bis zum Gehsteig. Die Hauptstraße war geräumt worden, doch hatte sich bereits eine dünne Decke Neuschnee über den Asphalt gelegt. Die Schneepflüge hatten Wälle zusammengeschoben, die so hoch waren, dass man nicht hinübersehen konnte. Der Baum im Vordergarten war derart mit Schnee beladen, dass die durchhängenden Äste an Kirchenbögen erinnerten. Tess duckte sich unter ihnen hindurch und fand sich zu ihrem großen Vergnügen in einer Art durchlöcherten Schneehöhle wieder. Es wäre das perfekte Versteck gewesen, wenn nicht schon nach kurzer Zeit eisige Luft unter ihren Schneeanzug gekrochen wäre, sodass sie vor Kälte zitterte.
Sie stand unter dem Baum, als sie einen Mann auf der Straße — die Gehsteige waren unpassierbar — in Richtung Haus kommen sah. Tess vermutete sofort, dass dies der Übernachtungsgast war. Er war nicht sehr warm angezogen. Zwischendurch blieb er stehen, um die von Schnee überkrusteten, nur halb lesbaren Nummern der Reihenhäuser zu entziffern. Er ging weiter, bis er vor Tessas Haus angelangt war, dann nahm er die Hände aus den Taschen, bahnte sich einen Weg durch die Schneewälle und stakste auf die Haustür zu. Tess zog sich in die Deckung des verschneiten Baums zurück, damit er sie nicht sehen konnte. Als er die Klingel erreichte, war seine Jeans bis über die Knie mit Schnee bedeckt.
Tessas Mutter kam an die Tür. Sie schüttelte dem Fremden die Hand. Der Mann klopfte sich den Schnee ab und trat ein. Tessas Mutter blieb noch einen Moment lang an der Tür stehen, verfolgte Tessas Fußspuren. Dann entdeckte sie Tessa unter dem Baum und zielte mit dem Finger auf sie, wie mit einer Pistole. Hab dich erwischt, Cowgirl, sagte Tessas Mutter immer bei solchen Gelegenheiten. Diesmal formte sie die Worte mit den Lippen.
Tess blieb eine Weile unter dem schützenden Baum stehen. Sie sah Mrs. Colangelo beim Schneeschippen zu, bis sie fertig war. Sie beobachtete einige Autos, die vorsichtig die Straße entlangschlichen. Sie kam zu dem Schluss, dass verschneite Wintertage ihr gut gefielen. Alle Oberflächen, sogar das große Frontfenster des Hauses, waren undurchsichtig und strukturiert, spiegelten kein bisschen. Und angesichts dieses Mangels an Spiegelflächen brauchte sie keine Angst zu haben, plötzlich Mirror Girl zu erblicken.
Mirror Girl gab sich oft als Spiegelbild von Tess aus. Tess wurde dann überrumpelt, sah plötzlich Mirror Girl aus dem Badezimmer- oder Schlafzimmerspiegel starren, nicht zu unterscheiden von Tessas eigenem Spiegelbild, außer an den Augen, die sie fragend anblickten, drängend, aufdringlich. Mirror Girl stellte Fragen, die niemand sonst hören konnte. Idiotische Fragen manchmal; manchmal aber Erwachsenenfragen, die Tess nicht beantworten konnte, manchmal Fragen, die ihr unangenehm waren und sie beunruhigten. Erst gestern hatte Mirror Girl sie gefragt, warum die Pflanzen im Haus grün und lebendig seien, die draußen aber alle braun und ohne Blätter. (»Weil Winter ist«, hatte Tess aufgebracht gesagt. »Geh weg. Ich glaube nicht an dich.«)
An Mirror Girl zu denken, verursachte Tess Unbehagen.
Sie machte sich auf den Weg zurück ins Haus. Der Rasen davor war noch immer ein unberührtes, jungfräulich weißes Schneefeld. Tess blieb stehen und zog ihre Handschuhe aus. Ihre Hände waren schon kalt geworden, aber da sie sowieso reingehen wollte, machte das nichts. Sie stieß beide Hände in den heilen, papierweißen Schnee. Die Abdrücke waren makellos, Spiegelbilder ihrer Hände. Symmetrisch, dachte Tess.
Als sie zur Tür kam, hörte sie Stimmen von innen, laute, erhobene Stimmen, die zornige Stimme ihrer Mutter. Tess schlüpfte ins Haus und machte leise die Tür hinter sich zu. Von ihren Stiefeln fiel klumpenweise vereister Schnee auf den Läufer im Flur. Ihre Wollmütze juckte plötzlich unangenehm. Sie riss sie sich vom Kopf und ließ sie auf den Boden fallen.