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Ihre Mutter und der Übernachtungsgast waren in der Küche, unsichtbar. Tess lauschte aufmerksam. Der Gast sagte gerade: »Hören Sie, wenn das ein Problem für Sie ist …«

»Es schafft ein Problem für mich.« Tessas Mutter klang gleichzeitig empört und unsicher, defensiv. »Ray — dieses Schwein!«

»Ray? Entschuldigung — wer ist Ray?«

»Mein Ex.«

»Was hat er mit dieser Angelegenheit zu tun?«

»Ray Scutter. Ist Ihnen der Name bekannt?«

»Natürlich, aber …«

»Sie glauben, dass es Ari Weingart war, der Sie hierhergeschickt hat?«

»Er hat mir Ihren Namen und Ihre Adresse genannt.«

»Ari meint es gut, aber er ist nur Rays Marionette. Oh, Scheiße. Entschuldigen Sie. Nein, ich weiß, Sie verstehen gar nicht, was los ist.«

»Sie könnten es mir erklären«, sagte der Gast.

Tess begriff, dass ihre Mutter von ihrem Vater sprach. Normalerweise hörte Tess nicht zu, wenn das passierte. So wie früher, wenn sie sich stritten. Sie dachte einfach an was anderes. Aber das hier war interessant. Jetzt hatte es etwas mit dem Übernachtungsgast zu tun, der einen neuen und faszinierenden Status einfach dadurch angenommen hatte, dass er Gegenstand des Zorns ihrer Mutter war.

»Es liegt nicht an Ihnen«, sagte Tessas Mutter. »Ich meine, sehen Sie, es tut mir leid, ich kenne Sie ja überhaupt nicht … es ist nur so, dass Ihr Name recht häufig fällt.«

»Vielleicht sollte ich wieder gehen.«

»Wegen Ihres Buches. Das ist der Grund, warum Ray Sie hergeschickt hat. Ich habe momentan keinen sehr guten Stand in Blind Lake, Mr. Carmody, und Ray gibt sich alle Mühe, den Halt, den ich noch habe, zu untergraben. Wenn es sich herumspricht, dass Sie hier ein Zimmer haben, wird man viele falsche Vorstellungen bestätigt sehen.«

»Alle Parias hocken am selben Ort.«

»Sozusagen. Na ja, es ist eine unangenehme Situation. Verstehen Sie, ich bin nicht sauer auf Sie, es ist nur …«

Tess malte sich aus, wie ihre Mutter die Hände zu einer Was-kann-ich-tun?-Gestein die Luft warf.

»Dr. Hauser …«

»Bitte, nennen Sie mich Marguerite.«

»Marguerite, ich suche im Grunde nichts weiter als eine Unterkunft. Ich spreche mit Ari und werde sehen, ob er etwas anderes arrangieren kann.«

Es folgte eine längere Pause von der Art, wie sie Tess ebenfalls mit der periodisch wiederkehrenden Traurigkeit ihrer Mutter in Verbindung brachte. Dann fragte sie: »Sie übernachten immer noch in der Sporthalle?«

»Ja.«

»Aha. Na ja, setzen Sie sich doch. Wärmen Sie sich wenigstens ein bisschen auf. ich koche einen Kaffee, wenn Sie mögen.«

Der Gast zögerte. »Wenn's nicht zu viel Umstände macht.«

Küchenstühle scharrten über den Fußboden. Leise stieg Tess aus ihren Stiefeln und hängte ihren Schneeanzug in den Schrank.

»Haben Sie viele Koffer?«, fragte Tessas Mutter.

»Ich reise mit ziemlich leichtem Gepäck.«

»Tut mir leid, wenn ich einen feindseligen Eindruck gemacht habe.«

»Ich bin daran gewöhnt.«

»Ich habe Ihr Buch nicht gelesen. Aber man hört so einiges.«

»Ja, man hört eine Menge. Sie sind Leiterin der Abteilung Beobachtung und Interpretation, nicht wahr?«

»Es ist eher eine abteilungsübergreifende Kommission.«

»Und was hat Ray gegen Sie?«

»Lange Geschichte.«

»Manchmal sind die Dinge nicht so, wie sie auf den ersten Blick scheinen.«

»Ich maße mir kein Urteil über Sie an, Mr. Carmody. Wirklich.«

»Und ich bin nicht hier, um Sie in eine schwierige Lage zu bringen.«

Es gab eine weitere Pause. Löffel klirrten in Kaffeetassen. Dann sagte Tessas Mutter: »Es ist ein Kellerraum. Nichts Besonderes. Allerdings wohl besser als die Turnhalle, glaube ich. Vielleicht können Sie so lange dort bleiben, bis Ari etwas anderes arrangiert hat.«

»Ist das ein echtes Angebot oder eins aus Mitleid?«

Tessas Mutter, jetzt nicht mehr wütend, ließ ein kurzes Lachen hören. »Vielleicht aus einem Schuldgefühl heraus. Aber ehrlich gemeint.« Wiederum Schweigen.

»Dann nehme ich es an«, sagte der Fremde. »Danke.« Tess ging in die Küche, um sich bekannt machen zu lassen. Insgeheim war sie begeistert. Ein Übernachtungsgast! Noch dazu einer, der ein Buch geschrieben hatte! Das war mehr, als sie zu hoffen gewagt hatte.

Tess schüttelte dem Gast die Hand; er war ein sehr großer Mann, der lockige dunkle Haare hatte und sie ernst und höflich begrüßte. Der Gast trank weiter Kaffee und plauderte mit Tessas Mutter fast bis Sonnenuntergang, als er aufbrach, um seine Sachen zu holen. »Wir werden wohl, jedenfalls für kurze Zeit, Gesellschaft haben«, sagte Tessas Mutter zu ihr. »Ich glaube nicht, dass Mr. Carmody uns groß stören wird. Er wird vielleicht auch gar nicht lange hier sein.«

Tess sagte, das ginge in Ordnung.

Sie spielte bis zum Abendessen in ihrem Zimmer. Es gab Spaghetti mit Tomatensoße aus der Dose. Der schwarze Laster lieferte jede Woche Lebensmittel, und diese wurden über den Supermarkt, wo die Leute vor der Quarantäne eingekauft hatten, nach einem Rationenpunktesystem verteilt. Das bedeutete, dass man sich nicht das aussuchen konnte, was man besonders gern mochte. Jeder bekam die gleiche wöchentliche Zuteilung von Obst und Gemüse, Konserven und Gefrierkost.

Aber Tess hatte nichts gegen Spaghetti. Außerdem gab es Brot mit Butter und Käse dazu und zum Nachtisch Birnen.

Nach dem Abendessen rief Tessas Vater an. Seit Beginn der Quarantäne konnte man nicht mehr nach draußen telefonieren oder E-Mails schicken, aber über Blind Lakes zentralen Server war es immerhin möglich, innerhalb des Zaunes zu kommunizieren. Tess nahm den Anruf auf ihrem eigenen Apparat entgegen, einem rosa Mattel-Handy aus Plastik, ohne Display und nennenswertem Speicher. Aus diesem Spielzeugtelefon klang die Stimme ihres Vaters mickrig und weit entfernt. Das Erste, was er sagte, war: »Geht's dir gut?«

Er fragte immer das Gleiche, jedes Mal, wenn er anrief. Tess antwortete wie immer: »Ja.«

»Bist du sicher, Tessa?«

»Ja.«

»Was hast du heute gemacht?«

»Gespielt«, sagte sie.

»Im Schnee?«

»Ja.«

»Hast du auch schön aufgepasst?«

»Ja«, sagte Tess, obwohl sie nicht recht wusste, worauf sie denn hätte aufpassen sollen.

»Wie ich höre, hattet ihr heute Besuch.«

»Der Übernachtungsgast«, sagte Tess. Sie fragte sich, wie ihr Vater so schnell davon erfahren hatte.

»Richtig. Wie findest du das, einen Besucher zu haben?«

»Ist okay. Ich weiß nicht.«

»Kümmert sich deine Mutter auch ordentlich um dich?«

Wieder eine wohlvertraute Frage. »Ja.«

»Das will ich hoffen. Weißt du, wenn es je Probleme dort gibt, brauchst du mich nur anzurufen. Ich kann dich dann abholen.«

»Ich weiß.«

»Na, jedenfalls nächste Woche bist du dann ja wieder bei mir. Kannst du noch eine Woche warten?«

»Ja«, sagte Tess.

»Und bist bis dahin ein braves Madchen?«

»Ist gut.«

»Ruf mich an, wenn es ein Problem mit deiner Mutter gibt.«

»Ist gut.«

»Hab dich lieb, Tessa.«

»Ich weiß.« Tess steckte das rosa Telefon in ihre Tasche zurück.

Der Übernachtungsgast kehrte am Abend mit einem Matchbeutel zurück. Er sagte, er hätte schon zu Abend gegessen, und ging dann in den Keller, um etwas zu arbeiten. Tess ging in ihr Zimmer.

Die Eisstickerei auf der Fensterscheibe war tagsüber geschmolzen, hatte sich nach Sonnenuntergang jedoch neu gebildet, mit neuen und andersartigen Symmetrien, die wie ein eigener Garten wuchsen und sich fortentwickelten. Tess stellte sich Kristallstraßen und Kristallhäuser vor und kristallene Wesen, die sie bewohnten: Eisstädte, Eiswelten.