Es hatte aufgehört zu schneien, und die Temperatur war gefallen. Der Himmel war ganz klar, und als sie das Eis weggerieben hatte, konnte Tessa massig viele Wintersterne hinter den schneebeladenen Baumästen und den Türmen der Hubble Plaza sehen.
Zwölf
Chris traf Elaine zum Abendessen im Restaurant Sawyer's im Einkaufszentrum. Ari Weingart hatte seinen Einfluss geltend gemacht, um trotz der Rationierung die örtlichen Restaurants weiter geöffnet zu halten, als Versammlungsort und um die Moral der Stadt zu stärken. Warme Mahlzeiten ausschließlich zum Lunch, nach drei Uhr nachmittags nur Sandwiches, keine alkoholischen Getränke, keine Nachschläge, aber auch keine Rechnungen: Da niemand mehr für seine Arbeit bezahlt wurde, wäre es sinnlos gewesen, hätte man die lokale Wirtschaft weiter auf Geldbasis betreiben wollen. Der Belegschaft war zugesichert worden, dass die Gehälter zusammengerechnet und nach Ende der Quarantäne ausbezahlt würden, und Kunden mit Bargeldbeständen wurde anheim gestellt, Trinkgelder zu geben, soweit es ihnen angemessen schien.
An diesem Abend waren Chris und Elaine die einzigen Gäste — der Schneefall vom Vortag hielt die Leute zu Hause fest. Die einzige Kellnerin, die zum Dienst erschienen war, ein in Teilzeit beschäftigter Teenager namens Laurel Brank, saß die meiste Zeit in einer entlegenen Ecke des Saals, las Bleak House auf einem Pocket-Display und naschte Chips aus einer Schüssel.
»Hab gehört, Sie sind einquartiert worden«, sagte Elaine.
Eine Kaltfront war dem Tiefdruckgebiet gefolgt. Die Luft war klar und schneidend, der Wind hatte zugelegt, schichtete den gestern gefallenen Schnee um und rüttelte an den Fenstern des Restaurants. »Ich bin da in etwas reingeraten, das ich nicht völlig verstehe. Weingart hat mich einer Frau namens Marguerite Hauser zugewiesen, die mit ihrer Tochter in der Siedlung im Westen der Stadt wohnt.«
»Ich kenne den Namen. Sie ist vor Kurzem aus Crossbank gekommen, leitet jetzt Beobachtung und Interpretation.« Elaine hatte alle wichtigen Kommissionsleute von Blind Lake interviewt; Interviews, die Chris infolge seines Rufes tendenziell nicht gewährt wurden. »Ich habe nicht mit ihr persönlich gesprochen, aber sie scheint nicht viele Freunde zu haben.«
»Feinde?«
»Nicht direkt Feinde. Sie ist einfach ein Neuankömmling und immer noch eine Art Außenseiterin. Der große Knackpunkt bei ihr ist …«
»Ihr Exmann.«
»Genau. Ray Scutter. Wenn ich recht sehe, hat es da eine ziemlich erbitterte Scheidung gegeben. Scutter redet schlecht über sie. Er meint, sie hätte nicht die Qualifikation, eine Kommission zu leiten.«
»Glauben Sie, dass er recht hat?«
»Kann ich nicht beurteilen, aber ihr beruflicher Werdegang ist makellos. Sie war nie die große Überfliegerin wie Ray und sie hat nicht die gleichen akademischen Zeugnisse, aber sie hat auch noch nie so spektakulär danebengelegen wie Ray. Kennen Sie die Diskussion über kulturelle Intelligibilität?«
»Einige Leute glauben, dass wir die Hummer irgendwann verstehen werden. Andere glauben das nicht.«
»Wenn die Hummer uns beobachten würden, auf wie viel von dem, was wir tun, könnten sie sich einen Reim machen? Pessimisten sagen, auf gar nichts — oder sehr wenig. Sie könnten vielleicht unserem System des ökonomischen Tausches auf die Spur kommen und ein bisschen auch unserer Biologie und Technologie, aber wie sollten sie Picasso interpretieren können, oder das Christentum, die Burenkriege, Die Brüder Karamasow oder auch nur den Gefühlsgehalt eines Lächelns? Wir kommunizieren unaufhörlich miteinander, und die Zeichen, die wir dafür verwenden, basieren auf allen möglichen spezifisch menschlichen Eigenarten, von der äußeren Physiologie bis hin zur Gehirnstruktur. Das ist der Grund, warum über die Hummer in diesen seltsamen Kategorien der Verhaltensforschung gesprochen wird — das Teilen der Nahrung, ökonomischer Tausch, Symbolschöpfung. Es ist wie bei einem Europäer aus dem neunzehnten Jahrhundert, der das Verwandtschaftssystem der Kwakiutl zu erforschen versucht, ohne die Sprache zu erlernen oder zu irgendwelcher Kommunikation imstande zu sein … nur dass dieser Europäer fundamentale Bedürfnisse und Triebe mit den Indianern gemeinsam hat, während wir mit den Hummern überhaupt nichts gemeinsam haben.«
»Es ist also sinnlos, es zu versuchen?«
»Ein Pessimist würde die Frage bejahen — er würde sagen, lasst uns unsere Informationen sammeln und sortieren und daraus lernen, aber begraben wir die Vorstellung von der grundsätzlichen Verstehbarkeit. Ray Scutter gehört zu diesen Leuten. In einem Vortrag hat er die Idee des exokulturellen Verständnisses einmal als ›romantischen Wahn, vergleichbar dem viktorianischen Fimmel für Spiritismus und Tischerücken‹ bezeichnet. Er versteht sich als eingefleischter Materialist.«
»Nicht alle Leute in Blind Lake teilen diese Sicht«, sagte Chris.
»Natürlich nicht. Es gibt auch eine andere Denkschule. In der Rays Ex zufällig Gründungsmitglied ist.«
»Optimisten.«
»Könnte man so sagen. Sie argumentieren, dass die Hummer zwar einzigartige physiologische Verhaltensvoraussetzungen aufweisen, diese aber seien beobachtbar und prinzipiell verstehbar, denn Kultur sei nichts anderes als erlerntes Verhalten, modifiziert durch Physiologie und Umwelt — erlernbar und daher auch nachvollziehbar. Wenn wir nur genug über das Alltagsleben der Hummer wissen, so glauben sie, dann würde das Verstehen sich zwangsläufig einstellen. Sie sagen, dass alle Lebewesen gewisse Dinge gemeinsam hätten, etwa das Verlangen, sich fortzupflanzen, die Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme und des Ausscheidens von Exkrementen und so weiter — und das seien genügend Gemeinsamkeiten, um die Hummer eher als entfernte Verwandte denn als grundlegend Fremde anzusehen.«
»Interessant. Was glauben Sie?«
»Was ich glaube?« Elaine schien ein wenig erschrocken über die Frage. »Ich bin Agnostikerin.« Sie legte den Kopf schief. »Sagen wir, es ist 1944. Sagen wir, irgendein E.T. erforscht die Erde, und nehmen wir an, er landet zufällig in einem Vernichtungslager in Polen. Er beobachtet, wie die Nazis den toten Juden das Gold aus den Zähnen brechen, und er fragt sich, ob das ein ökonomiegeleitetes Verhalten ist, ob es etwas mit der Nahrungskette zu tun hat oder was? Er versucht den Sinn zu erkennen, aber er kann es nicht. Wird es nie können. Denn manche Dinge haben keinen Sinn. Es gibt verdammt noch mal Dinge, die man einfach nicht erklären kann.«
»Das ist es, was zwischen Ray und Marguerite steht, diese philosophische Meinungsverschiedenheit?«
»Es ist alles andere als nur philosophisch, jedenfalls soweit es die Blind Laker Politik betrifft. Über diese Frage werden Karrieren gemacht und zerstört. Das Bedeutsame an UMa47 war die Entdeckung einer lebendigen, intelligenten Zivilisation, und folglich wird ein Großteil der Zeit und der Aufmerksamkeit darauf verwendet. Falls aber die Hummerkultur statisch und letzten Endes nicht verstehbar ist, wäre das vielleicht nicht gerechtfertigt. Es gibt Planetologen, die lieber die Geologie und das Klima studieren würden, und es gibt sogar Exozoologen, die sich die örtliche Fauna gern mal etwas genauer ansehen würden. Um diese merkwürdigen Wesen anstarren zu können, ignorieren wir vieles andere — zum Beispiel die anderen fünf Planeten in dem System. Keiner von ihnen ist bewohnbar, aber alle sind neu und unbekannt. Astronomen und Kosmologen fordern seit Jahren eine Erweiterung des Programms.«
»Das heißt, Marguerite befindet sich in der Minderheit?«