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»Chris«, sagte er. Er räumte einen Stapel des Astrobiological Review von einem Stuhl.

Marguerite ging zur Tür und rief: »Tess!«

Von unten: »Ja?«

»Zeit für dein Bad!«

Schritte kamen die Treppe hochgetapert. »Ich glaube nicht, dass ich ein Bad brauche.«

»O doch. Kannst du es selbst einlassen? Ich habe immer noch zu tun.«

»Glaube schon.«

»Ruf mich, wenn es so weit ist.«

Wenig später war das Rauschen von einlaufendem Wasser zu hören.

Chris beobachtete, wie das Subjekt einen weiteren gewundenen Gang emporstieg. Es war völlig allein, was an sich schon ungewöhnlich war. Die Eingeborenen agierten meistens in größeren Gruppen, teilten allerdings nie die Schlafgemächer miteinander.

»Diese Burschen sind außerdem hauptsächlich tagaktiv«, sagte Marguerite. »Also auch da eine Abweichung. Was die Frage betrifft, wo es hinwill — he, sehen Sie.«

Das Subjekt gelangte an einen offenen Torbogen und trat hinaus in die sternenklare fremdartige Nacht.

»Hier ist es noch nie gewesen.«

»Wo hier?«

»Eine Balkonplattform ganz oben auf seinem Wohnturm. Mein Gott, dieser Blick!«

Das Subjekt ging zu dem niedrigen Geländer am Rande des Balkons. Der virtuelle Blickpunkt schwebte ihm nach, sodass Chris die Hummerstadt sehen konnte, die sich hinter dem gemaserten Rumpf des Subjekts ausbreitete. Die langgestreckten Pyramidentürme waren an den Eingängen und den Balkonen von Lampen auf den öffentlichen Gehwegen beleuchtet. Ameisenhügel und Schneckengehäuse, dachte Chris, mit Goldgirlanden. Als Chris klein war, pflegten seine Eltern ein- oder zweimal im Jahr den Mulholland Drive bei Nacht entlangzufahren, um unter sich die Lichter von Los Angeles zu sehen. Das hatte damals so ähnlich ausgesehen wie jetzt. Fast ebenso riesig. Fast ebenso einsam.

Der kleine, schnelle Mond des Planeten war voll, man konnte einiges von den Trockengebieten jenseits der Stadt erkennen, auch die flachen Berge weit im Westen sowie ein hohes, von starken Winden vorangetriebenes Wolkenriff. Elektrostatisch aufgeladener Staub rollte in Spiralen über die bewässerten Felder, löste sich, riesigen Geistern gleich, ebenso schnell auf, wie er sich gebildet hatte.

Er sah, dass Marguerite beim Zugucken ein wenig erschauderte.

Das Subjekt näherte sich dem zerfressenen Balkongeländer. Wie zögernd stand es da. Chris sagte: »Will er sich vielleicht umbringen?«

»Ich hoffe nicht.« Sie war angespannt. »Wir haben noch kein selbstzerstörerisches Verhalten beobachtet, aber wir sind schließlich neu hier. Gott, ich hoffe nicht!«

Aber das Subjekt stand bewegungslos da, wie in sich versunken.

»Er bewundert die Aussicht«, sagte Chris.

»Könnte sein.«

»Was sonst?«

»Das wissen wir nicht. Deshalb machen wir keine Motivationszuschreibungen. Wenn ich dort stehen würde, würde ich die Aussicht genießen, aber das Subjekt genießt vielleicht den Luftdruck oder es hat gehofft, dort jemanden zu treffen, oder es ist irgendwie verwirrt. Dies sind komplexe intelligente Wesen mit Lebensgeschichten und biologischen Zwängen, die niemand zu verstehen auch nur vorgibt. Wir wissen nicht einmal mit Sicherheit, wie gut ihr Sehvermögen ist — möglicherweise sieht es nicht das, was wir sehen.«

»Trotzdem«, sagte Chris. »Wenn ich eine Wette abgeben müsste, würde ich sagen, dass er die Aussicht bewundert.«

Das trug ihm ein flüchtiges Lächeln ein. »Wir dürfen solche Dinge denken«, gestand Marguerite. »Aber wir dürfen sie nicht sagen.«

»Mama!«, kam es aus dem Bad.

»Ich komme gleich. Trockne dich schon mal ab!« Sie stand auf. »Zeit, Tess ins Bett zu bringen, fürchte ich.«

»Was dagegen, wenn ich noch ein bisschen weitergucke?«

»Ich glaube nicht. Rufen Sie mich, wenn etwas Aufregendes passiert. All das wird natürlich aufgezeichnet, aber es geht doch nichts über eine Liveübertragung. Kann aber sein, dass es einfach gar nichts macht. Wenn sie still stehen, bleiben sie oft stundenlang so.«

»Kein großer Partyplanet«, sagte Chris.

»Es wäre nett, wenn wir uns seinen statischen Zustand zunutze machen und einen Blick über die Stadt werfen könnten. Aber das Auge darauf zu trainieren, dass es ständig einem einzelnen Individuum folgt, war ein kleines Wunder für sich. Falls wir jetzt anderswohin gucken, könnten wir ihn verlieren. Erwarten Sie einfach nicht zu viel.«

Sie hatte recht mit ihrer Bemerkung über das Subjekt: Er stand absolut regungslos vor dem weiten nächtlichen Ausblick. In der Ferne sah Chris gewaltige, körperlose Staubteufel, die über die mondbeschienene Ebene jagten. Er fragte sich, welche Geräusche sie in der relativ dünnen Atmosphäre jener Welt machten. Er fragte sich, ob die Luft warm oder kühl war, ob das Wesen überhaupt eine Empfindung für Temperaturen besaß. Anomales Verhalten auf ganzer Linie, aber keine Möglichkeit, die Gedanken zu erahnen, die in diesem perfekt abgebildeten, jedoch vollkommen undurchdringlichen Kopf kreisten. Was bedeutete die Einsamkeit für Geschöpfe, die niemals allein waren, außer in der Nacht?

Er hörte die angenehme Geräuschkulisse aus Tessas Zimmer, die leise Unterhaltung, während Marguerite ihre Tochter ins Bett brachte. Lautes Gelächter zwischendurch, dann erschien Marguerite wieder in der Tür.

»Hat es sich bewegt?«

Der Mond hatte sich bewegt. Die Sterne hatten sich bewegt. Nicht aber das Subjekt. »Nein.«

»Ich koche Tee, falls Sie eine Tasse möchten.«

»Danke«, sagte Chris. »Würde ich gerne. Ich …« Aber da ertönte das unverkennbare Geräusch von zersplitterndem Glas, gefolgt von Tessas lautem, schrillem Schrei.

Chris stürmte gleich hinter Marguerite ins Zimmer des Mädchens.

Tess stieß noch immer hohe, langgezogene, schluchzende Schreie aus. Sie saß auf ihrer Bettkante, die rechte Hand in die Mitte ihres Flanellnachthemds gepresst. Blutspritzer waren auf der Tagesdecke zu sehen.

Die untere Scheibe des Zimmerfensters war zerbrochen. Glasreste mit gezackten Rändern steckten noch im Rahmen und bitterkalte Luft wehte herein. Marguerite kniete sich aufs Bett, hob Tessa weg von dem Scherbenhaufen. »Zeig mir deine Hand«, sagte sie.

»Nein!«

»Doch. Ist schon gut. Zeig sie mir.«

Tessa wandte den Kopf ab, drückte die Augen fest zu und hielt ihre geballte Faust ausgestreckt. Blut sickerte zwischen ihren Fingern hervor und rann über die Knöchel. Ihr Nachthemd war mit frischem rotem Blut befleckt. Marguerites Augen weiteten sich vor Entsetzen, aber mit Entschlossenheit schälte sie Tessas Finger von der Wunde weg. »Tess, was ist passiert?«

Tess saugte genug Luft an, um antworten zu können. »Ich habe mich gegen das Fenster gelehnt.«

»Du hast dich dagegen gelehnt?«

»Ja!«

Chris begriff, dass das eine Lüge war und Marguerite sie als solche hinnahm, so als wüssten sie beide, was wirklich passiert war. Womit sie weiß Gott mehr gewusst hätten als er. Er knüllte eine Decke zusammen und stopfte sie in das Loch in der Scheibe.

Mehr Blut strömte aus Tessas geöffneter rechter Innenhand — ein kleiner Springquell. Diesmal konnte Marguerite nicht verbergen, wie ihr vor Schreck der Atem stockte.

Chris sagte: »Ist noch Glas in der Wunde?«

»Ich kann's nicht erkennen … nein, ich glaube nicht.«

»Wir müssen draufdrücken. Sie wird auch genäht werden müssen.« Neuerlich geschockt, heulte Tess auf. »Das ist nicht schlimm«, versuchte Chris sie zu beruhigen. »Meiner kleinen Schwester ist mal das Gleiche passiert. Sie ist mit einem Glas in der Hand hingefallen und hat sich böse geschnitten — schlimmer noch als du jetzt. Später hat sie damit angegeben. Meinte, sie sei die Einzige gewesen, die keine Angst gehabt hätte. Der Arzt hat sie wieder zusammengeflickt.«