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»Es war ein Unfall. So etwas kommt vor.«

»Unfälle passieren, wenn Kinder nicht beaufsichtigt werden. Was hast du gemacht, wieder das Scheißsubjekt angestarrt oder was?«

Marguerite fand nicht gleich eine Antwort, daher sagte Chris: »Es ist passiert, nachdem Tess zu Bett gegangen war.« Er gab Marguerite einen unauffälligen Wink, ins Auto einzusteigen.

»Sie sind doch dieser Boulevardreporter — was wissen Sie denn darüber?«

»Ich war da.«

Marguerite hatte die Aufforderung verstanden und stieg ein. Ray wirkte frustriert und doppelt wütend, als er die Tür zuschlagen hörte. »Ich nehme meine Tochter mit zu mir«, sagte er.

»Nein, Sir«, sagte Chris entschieden. »Tut mir leid, aber heute nicht.«

Er behielt Blickkontakt mit Ray, während er hinters Steuer glitt. Auf dem Rücksitz begann Tess leise zu weinen. Ray lehnte sich gegen die Wagentür, aber was immer er rufen mochte, es war nicht zu hören. Chris legte den Gang ein und fuhr an, worauf Scutter noch schnell einen Tritt gegen die hintere Stoßstange richtete.

Marguerite beruhigte ihre Tochter. Chris fuhr vorsichtig, auf vereiste Stellen Acht gebend, vom Parkplatz herunter. Ray hätte in sein eigenes Auto springen und die Verfolgung aufnehmen können, entschied sich aber offenbar dagegen. Kurz bevor Chris ihn im Rückspiegel aus dem Blick verlor, stand er noch immer in ohnmächtiger Wut dort, wo sie ihn zurückgelassen hatten.

»Er hasst es, wenn irgendjemand ihn so erlebt«, sagte Marguerite. »Es tut mir leid, aber ich fürchte, Sie haben sich heute jemanden zum Feind gemacht.«

Zweifellos. Chris konnte die Alchemie nachvollziehen, nach der ein Mann in der Öffentlichkeit liebenswürdig, hinter verschlossenen Türen aber unter Umständen brutal war. Misshandlung als letzte Ausdrucksmöglichkeit von Nähe. Männer schätzten es grundsätzlich nicht, dabei beobachtet zu werden.

Sie fügte hinzu: »Ich muss Ihnen noch einmal danken. Das alles tut mir ehrlich leid.«

»Nicht Ihre Schuld.«

»Falls Sie sich lieber eine andere Unterkunft suchen möchten, hätte ich vollstes Verständnis dafür.«

»Der Keller ist immer noch wärmer als die Sporthalle. Sofern es Ihnen recht ist.«

Tess hustete schniefend. Marguerite half ihr, sich die Nase auszuschnauben.

»Ich denke die ganze Zeit«, sagte Marguerite, »was hätten wir machen sollen, wenn die Verletzung schlimmer gewesen wäre? Wenn wir ein richtiges Krankenhaus gebraucht hätten? Ich hab so die Nase voll von dieser Abriegelung.«

Chris bog auf die Auffahrt des Reihenhauses. »Ich gehe davon aus, dass wir's überleben werden«, sagte er. Marguerite jedenfalls war offensichtlich eine Überlebenskünstlerin.

Tess legte sich, vollkommen erschöpft, in Marguerites Bett schlafen. Das Haus war kalt, eisige Luft strömte durch das zerbrochene Fenster in Tessas Zimmer, und der Ofen konnte kaum dagegenhalten. Chris durchstöberte den Keller, bis er eine schwere Plastikstaubdecke und ein breites Stück Ahornfurnier gefunden hatte. Die Decke befestigte er mit Klebeband an dem leeren Fensterrahmen in Tessas Zimmer, dann heftete er zur Sicherheit noch das Furnier darüber.

Marguerite war in der Küche, als er nach unten kam. »Schlummertrunk?«, sagte sie.

»Klar.«

Sie schenkte ihm frischen Kaffee ein und gab einen Schuss Brandy dazu. Chris sah auf seine Uhr. Nach Mitternacht. Ihm war ganz und gar nicht nach Schlaf zumute.

»Vermutlich sind Sie es langsam leid, dass ich mich ständig bei Ihnen entschuldige.«

»Ich bin mit einer jüngeren Schwester großgeworden«, sagte Chris. »So was passiert nun mal mit Kindern. Das weiß ich.«

»Ja, Ihre Schwester. Portia, nicht wahr?«

»Bei uns heißt sie Porry.«

»Kommen Sie noch öfter mit ihr zusammen? Vor der Abriegelung, meine ich.«

»Porry ist schon vor längerer Zeit gestorben.«

»Oh. Tut mir leid.«

»Also, jetzt müssen Sie wirklich bald mal aufhören, sich zu entschuldigen.«

»Entschul … oh.«

»Was glauben Sie, wie viel Ärger Ray wegen dieser Sache machen wird?«

Sie zuckte die Achseln. »Die Frage ist gut. So viel er kann.«

»Es geht mich natürlich nichts an. Ich wollte nur gewarnt sein, falls Sie damit rechnen, dass er plötzlich mit einem Gewehr vor der Tür steht.«

»Nein, so ist es auch wieder nicht. Ray ist nur … tja, was kann ich über Ray sagen? Er hat gerne recht. Er hasst es, wenn man ihm widerspricht. Er ist immer bereit, einen Streit vom Zaun zu brechen, kann es aber nicht haben, wenn er ihn verliert, und er hat die meisten Auseinandersetzungen in seinem Leben verloren. Es gefällt ihm nicht, das Sorgerecht mit mir zu teilen — er hätte die Vereinbarung gar nicht unterschrieben, wenn sein Anwalt ihm nicht klargemacht hätte, dass das der beste Deal war, den er würde kriegen können — und er droht mir ständig mit irgendwelchen rechtlichen Schritten, um Tess an sich zu nehmen. Er wird den Vorfall von heute Abend als weiteren Beleg dafür nehmen, dass ich als Erziehungsberechtigte ungeeignet sei. Weitere Munition.«

»Das war nicht Ihre Schuld heute Abend.«

»Es ist Ray egal, was wirklich passiert ist. Er wird sich einreden, dass ich entweder direkt verantwortlich war oder mich jedenfalls grob fahrlässig verhalten habe.«

»Wie lange waren Sie verheiratet?«

»Neun Jahre.«

»Hat er Sie misshandelt?«

»Körperlich nicht. Nicht wirklich. Er hat schon mal mit der Faust gedroht, aber nie zugeschlagen. Das ist nicht Rays Stil. Aber er hat klar zu erkennen gegeben, dass er mir nicht vertraut, und er hatte weiß Gott immer etwas an mir auszusetzen. Ich hab alle fünfzehn Minuten einen Anruf gekriegt: wo ich bin, was ich mache, wann ich nach Hause komme, und wehe, ich komme zu spät. Er mochte mich nicht, aber ich durfte mich auch für niemand anders interessieren als für ihn. Zuerst habe ich mir gesagt, das sei nur eine Schrulle von ihm, eine Charakterschwäche, etwas, das er überwinden würde.«

»Hatten Sie Freunde, Familie?«

»Meine Eltern sind großzügige Leute. Sie sind Ray so lange entgegengekommen, bis ihnen klar wurde, dass Ray keinen Wert darauf legte, dass man ihm entgegenkam. Er mochte es nicht, wenn ich sie besuchte, mochte es auch nicht, wenn ich mich mit Freunden traf. Es sollte nur uns beide geben, keine gegenläufigen Kräfte.«

»Die Art von Ehe, die man gern hinter sich lässt«, sagte Chris.

»Ich glaube, er ist nicht unbedingt der Ansicht, dass es vorbei sei.«

»Leute können leicht zu Schaden kommen in solchen Situationen.«

»Ich weiß«, sagte Marguerite. »Ich kenne die entsprechenden Geschichten. Aber Ray würde mich niemals anfassen.«

Chris ließ es dabei bewenden. »Wie ging's Tess, als Sie ihr gute Nacht gesagt haben?«

»Sie sah ziemlich müde aus. Total erschöpft, das arme Ding.«

»Was glauben Sie, wie es dazu kam, dass sie das Fenster zerbrochen hat?«

Marguerite nahm einen ausgiebigen Schluck Kaffee und schien etwas auf der Tischplatte bemerkt zu haben, das einer näheren Untersuchung bedurfte. »Ich weiß es ehrlich nicht, aber Tess hat in der Vergangenheit ein paar Probleme gehabt. Vor allem mit glänzenden Oberflächen, Spiegeln und dergleichen, die mag sie nicht. Sie muss etwas gesehen haben, das ihr nicht gefallen hat.«

Und deshalb hatte sie mit der Hand durchs Glas gehauen? Chris verstand es nicht, aber es war Marguerite sichtlich unangenehm, darüber zu sprechen, und er wollte sie nicht drängen. Sie hatte heute Abend schon genug durchgemacht.

Er wechselte das Thema und sagte: »Was wohl das Subjekt gerade macht? Schlaflos in Hummerhausen.«

»Ich habe oben alles angelassen, nicht wahr?« Sie stand auf. »Wollen wir mal gucken?«

Er folgte ihr die Treppe hinauf in ihr Arbeitszimmer. Sie gingen auf Zehenspitzen an dem Zimmer vorbei, in dem Tessa schlief.