Marguerites heimisches Büro war genau so, wie sie es zurückgelassen hatten, die Lampen brannten, die Interfaces leuchteten, der große Wandbildschirm folgte noch immer brav den Bewegungen des Subjekts. Aber Marguerite hielt die Luft an, als sie das Bild sah.
Inzwischen war es wieder Tag auf Subjekts Abschnitt von UMa47/E. Das Subjekt hatte die hohe Brüstung verlassen und war auf dem Weg zu einer Straße, die auf Bodenebene verlief. Die Winde der vergangenen Nacht hatten alle Oberflächen mit feinem weißem Sand überzogen, eine neuartige Textur im schräg einfallenden Licht der Sonne.
Das Subjekt näherte sich einem steinernen Torbogen, der fünfmal so hoch war wie es selbst, und schritt in den Sonnenaufgang hinein. Chris sagte: »Wo will der Kerl hin?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Marguerite. »Aber wenn es jetzt nicht umkehrt, verlässt es die Stadt.«
Dreizehn
»Charlie Grogan hat angerufen«, sagte Sue Sampel, als Ray durchs Vorzimmer kam. »Ebenso Dajit Gill, Julie Sook und zwei weitere Abteilungsleiter. Oh, und für zehn Uhr ist Ari Weingart angesagt und für elf Schulgin, außerdem …«
»Leiten Sie mir das Tagesprogramm auf meinen Desktop«, sagte Ray knapp. »Plus alle dringenden Nachrichten. Und keine Anrufe durchstellen.« Er verschwand in seinem Allerheiligsten und machte die Tür hinter sich zu.
Gesegnet sei die Stille, dachte Sue. Allemal angenehmer als der Klang von Ray Scutters Stimme.
Sue hatte eine Tasse mit heißem Kaffee auf seinen Schreibtisch gestellt, in Würdigung seiner zuverlässigen Pünktlichkeit. Sehr gut, dachte Ray. Aber er hatte einen schwierigen Tag vor sich. Seit das Subjekt letzte Woche zu seiner Pilgerwanderung aufgebrochen war, befanden sich die Deutungskommissionen in einem Zustand der Hysterie. Selbst die Astrozoologen waren in zwei Lager geteilt: Die einen wollten sich weiter auf Hummerhausen konzentrieren und einem neuen, repräsentativeren Subjekt folgen, die anderen (zu denen auch Marguerite gehörte) glaubten fest, dass das Verhalten des Subjekts signifikant war und bis zu Ende verfolgt werden sollte. Die Technologie und Artefakten-Leutehatten Angst, ihren urbanen Kontext zu verlieren, aber die Astrogeologen und Klimatologen begrüßten die Aussicht auf einen langen Ausflug in die Wüste und die Berge. Die verschiedenen Kommissionen zankten sich wie die Marktweiber und in Abwesenheit der leitenden Wissenschaftler sowie in Ermangelung einer Verbindung nach Washington gab es keine vorgezeichnete Möglichkeit, den Konflikt zu lösen.
Letzten Endes würde man von ihm, Ray, erwarten, die Richtung zu weisen. Aber er wollte diese Verantwortung nicht ohne ausgiebige Beratung auf sich nehmen. Ganz gleich, welche Entscheidung er traf, er würde sich früher oder später gezwungen sehen, sie zu verteidigen. Und diese Verteidigung sollte wasserdicht sein. Er musste in der Lage sein, Namen und Dokumente anzuführen, und sollten einige von den hitzköpfigeren Parteigängern dieser oder jener Haltung meinen, er würde sich »vor einer klaren Entscheidung drücken« — und eben diese Formulierung war ihm bereits zu Ohren gekommen —, nun, sei's drum. Er hatte alle Seiten gebeten, Positionspapiere zu erstellen.
Da sollte man doch den Tag am besten in positiver Stimmung beginnen. Ray faltete eine Papierserviette auseinander und zückte seinen Schlüssel, um die unterste Schublade seines Schreibtisches aufzuschließen.
Seit Beginn der Abriegelung verwahrte Ray einen Vorrat an DingDongs in dieser Schreibtischschublade. Es war zwar peinlich, es zuzugeben, aber er hatte nun mal eine Vorliebe für Backwaren, und ganz besonders gerne aß er eben DingDongs zu seinem Morgenkaffee, und auf die unvermeidlichen Klugscheißerkommentare von wegen Polysorbat 80 und »leere Kalorien« konnte er ohne Weiteres verzichten. Es war ihm ein sinnliches Vergnügen, die spröde Verpackung aufzureißen, denn er mochte den Geruch nach Zucker und Stärkemehl, der daraus aufstieg; er mochte die klebrige Konsistenz des Gebäcks, die Art, wie der Kaffee den leicht chemischen Nachgeschmack vom Gaumen abzog.
Aber in der wöchentlichen Lieferung des schwarzen Lasters waren keine DingDongs enthalten. Ray war dreist genug gewesen, den verbliebenen Bestand vom örtlichen Lebensmittelhändler und dem Kiosk in der Eingangshalle der Plaza aufzukaufen. So hatte er sich einen Vorrat von einigen Kartons gesichert, doch auch der ging inzwischen zur Neige. Soweit Ray es beurteilen konnte, befanden die letzten sechs DingDongs in der gesamten unter Quarantäne befindlichen Gemeinde von Blind Lake sich gegenwärtig in seiner Schreibtischschublade. Danach — nichts mehr. Kalter Entzug. Sicherlich, dran sterben würde er nicht, aber es fuchste ihn, durch diesen fortlaufenden bürokratischen Murks, diese endlose stumme Abriegelung, zum Verzicht gezwungen zu werden.
Er zog einen DingDong aus der Schublade. Einen wegnehmen, bleiben noch fünf, die Ration einer Arbeitswoche.
Er konnte aber nur vier Päckchen ausmachen, die sich dort im Dunkeln verkrochen hatten.
Vier. Er zählte noch einmal. Vier. Er suchte die Schublade mit der Hand ab. Vier.
Es hätten fünf sein müssen. Hatte er sich verrechnet?
Für einen Moment saß er reglos da, verarbeitete diese unerfreuliche Information, entwickelte eine solide, rechtschaffene Wut. Dann rief er Sue Sampel über den Summer und bat sie in sein Büro.
»Sue«, sagte er, als sie in der Tür auftauchte. »Haben Sie zufällig einen Schlüssel zu meinem Schreibtisch?«
»Zu Ihrem Schreibtisch?« Ihre Überraschung über diese Frage war entweder echt oder sehr gut gespielt.
»Als ich hierher kam, haben die Leute vom technischen Personal mir nämlich versichert, dass meiner der einzige Schlüssel wäre.«
»Haben Sie ihn verloren? Es muss doch irgendwo einen Generalschlüssel geben. Oder man könnte die Schlösser auswechseln lassen, nehme ich an.«
»Nein, ich hab ihn nicht verloren.« Der Ton seiner Stimme ließ sie zusammenzucken. »Ich habe den Schlüssel hier. Es ist etwas gestohlen worden.«
»Gestohlen? Was denn?«
»Es spielt keine Rolle, was gestohlen wurde. Zufällig war es nichts besonders Wichtiges. Worauf es ankommt, ist, dass sich jemand ohne mein Wissen Zugang zu meinem Schreibtisch verschafft hat. Die Bedeutung dieses Vorgangs müsste selbst Ihnen einsichtig sein.«
Sie warf einen verstohlenen Blick auf seinen Schreibtisch. Zu spät erkannte Ray, dass er den heutigen DingDong ungeöffnet neben seiner Kaffeetasse hatte liegen lassen. Sie bemerkte ihn, sah dann Ray mit einem Gesichtsausdruck an, der besagte: Das soll wohl ein Scherz sein. Er fühlte das Blut in seine Wangen schießen.
»Vielleicht sollten Sie mal mit dem Reinigungspersonal sprechen«, sagte Sue.
Jetzt wollte er nur noch, dass sie wieder verschwand. »Ja, na gut, schätze, es ist nicht so wichtig … ich hätte es gar nicht erwähnen sollen …«
»Oder mit der Sicherheit. Sie kriegen ja nachher Besuch von Schulgin.«
Unterdrückte sie ein Grinsen? Konnte es sein, dass sie ihn auslachte? »Danke«, sagte er angespannt.
»Sonst noch etwas?«
»Nein.« Verschwinde, verdammt noch mal! »Schließen Sie bitte die Tür.«
Sie schloss sie sanft. Ray hatte die Vorstellung, ihr Lachen würde hinter ihr herschweben wie ein leuchtend rotes Band.
Ray hielt sich für einen Realisten. Er wusste, dass bestimmte Aspekte seines Verhaltens von denen, die ihm übel wollten (und die Zahl seiner Feinde war Legion), als frauenfeindlich bezeichnet werden konnten. Aber er hasste die Frauen nicht. Ganz im Gegenteiclass="underline" Er gab ihnen jede Möglichkeit, sich zu rehabilitieren. Das Problem war nicht, dass er keine Frauen mochte, sondern dass er beständig von ihnen enttäuscht wurde. Zum Beispiel Marguerite. (Immer wieder Marguerite, auf ewig Marguerite …)