Um zehn kam Ari Weingart mit einer ganzen Reihe von Vorschlägen zur Stärkung der Moral. Cayti Lane von der PR-Abteilung wollte einen lokalen Videoring für Nachrichten und Gesellschaftliches aufmachen — Blind-Lake-TV sozusagen, mit ihr selbst als Moderatorin. »Ich finde, das ist eine gute Idee«, sagte Ari. »Cayti ist gescheit und fotogen. Was ich außerdem gern tun würde: die jeweiligen Downloads, die die Leute in ihren Hausservern gespeichert haben, in einem großen Pool zu sammeln, damit wir sie neu senden können. Also ein Fernsehprogramm nach festen Zeiten, ohne freie Wahl, so wie früher, im 20. Jahrhundert; das könnte den Zusammenhalt fördern. Oder zumindest den Leuten ein bisschen Gesprächsstoff geben für die Arbeitspausen.«
Schön. Das alles war gut und schön. Ari regte ferner eine Diskussions- und Vortragsreihe an, die Samstagabends im Gemeindezentrum stattfinden könnte. Auch dies völlig in Ordnung. Ari versuchte offensichtlich, die Folgen der Isolation mit den Mitteln der Gemeindearbeit abzumildern. Das sollte er ruhig tun, dachte Ray. Sollte er die jammernden Insassen doch mit Shows und Kokolores ablenken. Letzten Endes war aber dieser ganze Verbesserungseifer furchtbar ermüdend, und so war es eine wahre Erleichterung, als Ari endlich sein Grinsen wieder einpackte und sich verabschiedete.
Ray zählte noch einmal seine DingDongs.
Natürlich konnte es auch Sue gewesen sein, die in seinen Schreibtisch eingebrochen war. Nichts deutete darauf hin, dass sich jemand am Mechanismus zu schaffen gemacht hatte — vielleicht war er so unachtsam gewesen, den Schreibtisch nicht abzuschließen, und sie hatte aus diesem Konzentrationsfehler Kapital geschlagen. Sue hatte oft länger gearbeitet als er, vor allem, wenn Tessa unter seiner Obhut stand; anders als Marguerite ließ er seine Tochter nämlich nach der Schule nicht gern allein im Haus. Ray kam zu dem Schluss, dass Sue die Hauptverdächtige war, wenngleich man auch das Reinigungspersonal nicht gänzlich vom Verdacht freisprechen konnte.
Männer waren im Umgang einfacher als Frauen. Bei Männern kam es nur darauf an, sie laut genug anzureden, um sich ihre Aufmerksamkeit zu sichern. Frauen waren verschlagener, fand Ray, scheinbar nachgiebig, aber man konnte sich nicht drauf verlassen. Ihre Loyalität war nur vorläufig, stand allzu leicht wieder zur Disposition. (Siehe zum Beispiel Marguerite …)
Wenigstens würde Tessa sich nicht zu so einer Sorte Frau entwickeln.
Dimi Schulgin, sehr elegant in einem maßgeschneiderten grauen Anzug, erschien um elf, eine willkommene Ablenkung, obwohl er lauter unheilvolle Neuigkeiten brachte. Schulgin war ein Meister der baltischen Undurchdringlichkeit, sein käsiges Gesicht ließ keinerlei Ausdruck erkennen, als er die Stimmung beschrieb, die unter den Tagesarbeitern und Festangestellten herrschte. »Sie haben die Isolierung so lange ertragen«, sagte Schulgin, »ohne viel Probleme zu machen, wahrscheinlich weil sie gesehen haben, was mit dem unglücklichen Mr. Krafft passiert ist, als er auszubrechen versuchte. Das kann man, glaube ich, im Nachhinein als Segen bezeichnen. Die Leute sind gefügig, weil sie Angst haben, aber die Unzufriedenheit wächst. Die vorübergehend Beschäftigten und das technische Personal sind zahlenmäßig fünfmal stärker als die Wissenschaftler und Verwaltungsleute, wissen Sie. Viele von ihnen fordern Mitsprache im Entscheidungsprozess und nicht wenige würden gern das Auge abschalten und sehen, was dann passiert.«
»Das ist alles Gerede«, sagte Ray.
»Bisher ist alles Gerede, ja. Aber auf lange Sicht — falls die Abriegelung weiter aufrecht erhalten wird —, wer weiß?«
»Wir sollten etwas Positives tun und dafür sorgen, dass alle es mitkriegen.«
»Wenn man den Eindruck erwecken könnte, dass etwas unternommen wird«, sagte Schulgin mit seinem geschwollenen Akzent, der jegliche Ironie zuverlässig kaschierte, »wäre das hilfreich.«
»Wissen Sie«, sagte Ray, »mein Schreibtisch ist kürzlich aufgebrochen worden.«
»Ihr Schreibtisch?« Schulgins raupenartige Augenbrauen zuckten nach oben. »Aufgebrochen? Also Vandalismus, Diebstahl?«
Ray winkte mit einer Geste ab, die Großmut signalisieren sollte. »Eine triviale Sache, bestenfalls Bürovandalismus, aber es hat mich zum Nachdenken gebracht. Wie wär's, wenn wir eine Untersuchung einleiten würden?«
»Eine Untersuchung des Vandalismus an Ihrem Schreibtisch?«
»Nein, um Himmels willen, der Isolierung.«
»Eine Untersuchung? Wie sollen wir das machen? Alle Hinweise befinden sich auf der anderen Seite des Zauns.«
»Nicht unbedingt.«
»Das müssen Sie mir erklären.«
»Es gibt eine Theorie, die besagt, dass wir abgeriegelt werden, weil irgendetwas in Crossbank passiert ist, etwas Gefährliches, etwas, das mit ihren O/BEKs zu tun hat, etwas, das genauso gut hier passieren könnte.«
»Ja, weswegen auch die Forderung immer lauter wird, unsere eigenen Prozessoren abzuschalten, aber …«
»Vergessen Sie mal für einen Moment die O/BEKs. Denken Sie an Crossbank. Falls Crossbank ein Problem hatte, müssten wir dann nicht davon gehört haben?«
Schulgin überlegte. Er rieb sich mit dem Finger über die Nase. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Alle höheren Verwaltungsleute waren in Cancun, als die Tore geschlossen wurden. Sie wären die Ersten gewesen, die es erfahren hätten.«
»Ja.« Sanft trieb Ray den Gedanken auf seine Schlussfolgerung zu. »Aber es könnten Nachrichten auf ihren Personal-Servern eingegangen sein, bevor die Quarantäne in Kraft trat.«
»Dringende Sachen wären weitergeleitet worden …«
»Aber Kopien davon wären noch immer auf den Blind-Lake-Servern, nicht wahr?«
»Na ja … vermutlich. Es sei denn, jemand hätte sich die Mühe gemacht, sie zu löschen. Aber wir können nicht einfach in die Personal-Server des Leitungspersonals reingehen.«
»Nicht?«
Schulgin zuckte die Achseln. »Das würde ich jedenfalls denken.«
»Unter normalen Umständen würde sich die Frage gar nicht stellen. Die Umstände sind freilich alles andere als normal.«
»Die Server knacken, ihre Mails lesen. Ja, das ist interessant.«
»Und falls wir irgendetwas Nützliches finden, sollten wir es auf einer Generalversammlung verkünden.«
»Falls es etwas Verkündenswertes gibt. Außer Voicemails von Ehefrauen oder Geliebten. Soll ich mal mit meinen Leuten reden, mich erkundigen, wie schwierig es wäre, in die Server reinzukommen?«
»Ja, Dimi«, sagte Ray. »Tun Sie das.«
Je mehr er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm das Vorhaben. Als er zum Mittagessen ging, hatte sich seine Laune entschieden gebessert.
Rays Stimmungen waren jedoch höchst unbeständig, und abends, beim Verlassen der Plaza, war er schon wieder reichlich angefressen. Die Sache mit den DingDongs. Sue hatte die Geschichte wahrscheinlich ihren Freundinnen in der Cafeteria weitererzählt. Jeder Tag brachte eine neue Demütigung. Er aß halt gern DingDongs zum Frühstück: Was war daran so verdammt lustig, so zum Lachen anomal? Alles Arschlöcher, dachte Ray wütend.
Er fuhr vorsichtig durch heftige Schneeschauer, versuchte ohne großen Erfolg, die Ampeln an der Hauptstraße abzupassen.
Ja, die meisten Leute waren Arschlöcher, und genau das wollten die Exokulturtheoretiker einfach nicht kapieren, Leute wie Marguerite, blinde kleine Federgewichtsoptimisten. Eine Welt voller Arschlöcher war ihnen noch nicht genug. Sie wollten noch mehr. Sie wollten ein ganzes lebendiges Arschloch von einem Universum, einen glänzend rosafarbenen, organischen Kosmos, einen Zauberspiegel, aus dem ein fröhliches Gesicht strahlt.
Dunkelheit schloss sich wie ein Vorhang um den Wagen. Wie viel sauberer die Welt doch wäre, dachte Ray, wenn sie weiter nichts enthielte als Gas und Staub und gelegentlich mal einen aufflackernden Stern — kalt, aber ohne Makel, wie der Schnee, der die wenigen hohen Türme von Blind Lake einhüllte. Die einzige Lektion, die aus Hummerhausen zu ziehen war, war eine politisch inkorrekte, war die unaussprechliche, aber offensichtliche Tatsache, dass Intelligenz (die sogenannte) nichts anderes war als geballte Irrationalität, ein Ensemble von Verhaltensweisen, von der DNA entworfen, um mehr DNA zu produzieren, frei von jeglicher Logik außer einer keiner Kontrolle unterliegenden Mathematik der Selbstreproduktion. Chaos mit Feedback, z > z2+ c, blind wiederholt, bis das Universum sich selbst aufgefressen und ausgeschissen hatte.