Mich eingeschlossen, dachte Ray. Dieser ätzenden Wahrheit musste man sich stellen. Alles, was er liebte (seine Tochter) oder zu lieben geglaubt hatte (Marguerite), repräsentierte nichts weiter als seine Teilhabe an dieser Gleichung, war nicht mehr oder weniger vernünftig als das nächtliche Bluten der Eingeborenen von UMa47/E. Marguerite zum Beispieclass="underline" eine Verkörperung mangelhafter Gencodes, die besitzergreifende, aber ungeeignete Mutter, eine wandelnde Gebärmutter, die auf Gleichheit vor dem Gesetz pochte. Wie penetrant sie sich noch immer in seine Gedanken einschlich. Jede Unverschämtheit, die Ray zu erdulden hatte, war ein Spiegel ihres Hasses.
Das Garagentor rollte auf, als seine Sensoren das Nahen des Wagens registrierten. Er parkte unter dem gleißenden Licht der Deckenlampe.
Er fragte sich, wie es wäre, sich von all diesen biologischen Zwängen zu befreien und die Welt so zu sehen, wie sie wirklich war. Ein einziger Schrecken für unsere Augen, dachte Ray, trostlos und feindlich, aber unsere Augen sind Lügner, ebenso Sklaven der DNA wie unser Herz und unser Verstand. Vielleicht war es das, wozu die O/BEKs geworden waren: ein unmenschliches Auge, fähig, Dinge zu sehen, die niemand als wahr akzeptieren wollte.
Tessa war diese Woche wieder bei ihm. Er rief Hallo, als er das Haus betrat. Sie saß im Wohnzimmer auf dem Sessel neben dem künstlichen Weihnachtsbaum, über ihre Hausaufgaben gebeugt wie ein bildungsbeflissener Zwerg. »Hi«, sagte sie teilnahmslos. Ray blieb einen Moment lang stehen, überrascht von seiner Liebe zu ihr, in Bewunderung der dichten Locken, die ihr Haar um den Schädel flocht. Sie schrieb auf dem Bildschirm eines kleinen Handgeräts, das ihre kindhafte Kritzelei in lesbare Zeichen übersetzte.
Er zog Mantel und Überschuhe aus und ließ die verschneite Dunkelheit draußen hinter den Jalousien verschwinden. »Hast du deine biologische Mutter schon angerufen?«
Die Vereinbarung, die er nach der Schlichtung mit Marguerite geschlossen hatte, sah vor, dass Tess täglich mit dem abwesenden Elternteil telefonierte. Tess sah ihn neugierig an. »Meine biologische Mutter?«
Hatte er das wirklich laut gesagt? »Ich meine, deine Mutter.«
»Ja, hab ich.«
»Hat sie irgendwas Unangenehmes gesagt? Du weißt, du kannst es mir sagen, wenn deine Mutter dir Probleme bereitet.«
Tess zuckte verlegen die Achseln.
»War der Fremde bei ihr, als du angerufen hast? Der Mann, der im Keller wohnt?«
Tess zuckte erneut die Achseln.
»Zeig mir deine Hand«, sagte Ray.
Man musste kein Genie sein, um darauf zu kommen, dass die Probleme, die Tessa in Crossbank gehabt hatte, auf Marguerites Konto gingen, auch wenn der Scheidungsmediator nicht in der Lage gewesen war, das zu erkennen. Marguerite hatte sich überhaupt nicht um Tess gekümmert, hatte sich einzig und allein für ihre geliebten extraterrestrischen Meereslandschaften interessiert, worauf Tess mehrere verzweifelte, in ihrer Motivation unmissverständliche Versuche gemacht hatte, Aufmerksamkeit zu erlangen. Die Furcht erregende Fremde im Spiegel mochte gut und gern Marguerites Subjekt selbst gewesen sein — verstohlen, fordernd und allgegenwärtig.
Bedrückt, den Kopf gesenkt vor Verlegenheit, streckte Tess ihre rechte Hand aus. Die Fäden waren vergangene Woche gezogen worden. Die Narben würden mit der Zeit verschwinden, hatte der Ambulanzarzt gesagt, aber noch sahen sie schrecklich aus, rosafarbene neue Haut zwischen wie ausgehackt wirkenden Mulden, dort wo die Stiche gesetzt worden waren. Ray hatte bereits einige Fotos davon gemacht, für den Fall, dass die Sache jemals vor Gericht relevant würde. Er hielt ihre kleine Hand fest, überzeugte sich davon, dass nichts auf eine Infektion hindeutete. Keine kleinen Lebewesen, die seiner Tochter den Lebenssaft aussaugten.
»Was gibt's zu essen?«, fragte Tess.
»Huhn«, sagte Ray und überließ sie ihren Büchern. Tiefgekühltes Huhn im Gefrierschrank. Die Versuchsperson entnahm aus kalter Lagerung das geschlachtete Fleisch eines am Boden lebenden Vogels und ließ es in einer Pfanne mit kalt gepresstem Pflanzenöl anbraten. Knochlauch und Basilikum, Salz und Pfeffer wurden hinzugefügt. Von dem Geruch lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Tess, davon angelockt, kam in die Küche, um ihm beim Kochen zuzusehen.
»Machst du dir Sorgen, weil du morgen zu deiner Mutter zurückgehst?«
Zu deiner biologischen Mutter. Zur anderen Hälfte deiner genetischen Trickkiste. Zur schlechteren Hälfte, dachte Ray.
»Nein«, sagte Tess. Dann, fast aufsässig: »Warum fragst du andauernd solche Sachen?«
»Tu ich das?«
»Ja. Manchmal.«
»Nun, manchmal ist nicht immer, oder?«
»Nein, aber …«
»Ich möchte nur, dass es dir gut geht, Tess.«
»Ich weiß.« Geschlagen wandte sie sich ab.
»Du bist glücklich hier, nicht wahr?«
»Es ist okay hier.«
»Denn bei deiner Mutter kann man nie wissen, stimmt's? Könnte sein, dass du die ganze Zeit hier wohnen musst, falls ihr irgendetwas passiert.«
Tess kniff die Augen zusammen. »Was sollte ihr passieren?«
»Man kann nie wissen«, sagte Ray.
Vierzehn
Bevor es die Stadt verließ, war Subjekts Leben ein sich immerfort wiederholender Zyklus von Arbeit, Schlaf und Nahrungsaufnahme gewesen. Es hatte Marguerite auf bestürzende Weise an die hinduistische Vorstellung der Kalpas erinnert, des heiligen Kreislaufs, der ewigen Wiederkehr.
Aber das hatte sich jetzt verändert.
Denn aus dem Kreis war etwas anderes geworden: nämlich eine Erzählung, eine Geschichte, dachte Marguerite, mit einem Anfang und einem Ende. Darum war es so wichtig, das Auge weiterhin auf das Subjekt zu richten, ungeachtet dessen, was die mehr zum Zynismus neigenden Mitarbeiter in der Interpretation meinten. »Das Subjekt ist nicht mehr repräsentativ«, sagten sie. Aber gerade das machte den Vorgang so interessant. Subjekt war ein Individuum geworden, etwas, das mehr war als die Summe seiner Funktionen in der Gesellschaft der Eingeborenen. Dies war offenkundig eine Art Krise im Leben des Subjekts, und Marguerite fand die Vorstellung, deren Auflösung nicht mitverfolgen zu können, ganz und gar unerträglich. Selbst wenn diese Auflösung in seinem Tod bestehen sollte. Und das war nicht ausgeschlossen.
Schon bald war ihr die Idee gekommen, die Odyssee des Subjekts aufzuschreiben, nicht analytisch, sondern als das, was daraus geworden war: eine Erzählung, eine Geschichte. Natürlich nicht für die Öffentlichkeit gedacht. Schließlich würde sie alle Regeln der Objektivität verletzen, sich allen möglichen bewussten und unbewussten Anthropozentrismen hingeben. Außerdem war sie keine Autorin, jedenfalls keine Autorin dieser Art. Sie wollte es ausschließlich zu ihrer eigenen Befriedigung machen … und weil sie glaubte, dass das Subjekt es verdiente. Schließlich war es ein reales Leben, in das sie da eingedrungen waren. In der Privatheit des Schreibens könnte sie ihm die gestohlene Würde zurückerstatten.
Sie nahm das Projekt in einem blauen Schulheft mit Spiralbindung in Angriff. Tess lag im Bett (sie war vor zwei Tagen, nach einem enttäuschenden Weihnachtsfest, von ihrem Vater zurückgekommen) und Chris stellte unten die Küche auf den Kopf oder plünderte ihre Bibliothek. Es war ein kostbarer Moment, den sie schweigend würdigte. Jetzt konnte sie die schwarze Kunst der Empathie ausüben. Jetzt konnte sie offen eingestehen, dass ihr das Schicksal dieses so unerforschlichen und gleichzeitig so intim vertrauten Wesens am Herzen lag.