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Orangensaft mit einem Schuss Wodka, das Mittel der Wahl, wenn sie sich zu ruhelos fühlte, um schlafen zu können. So wie heute. Sie zog einen dritten Stuhl unter dem Küchentisch hervor und legte ihre in Pantoffeln steckenden Füße neben denen von Chris ab. »Langer Tag?«, fragte sie.

»Ich habe mich noch mal mit Charlie Grogan drüben im Auge getroffen«, sagte Chris.

»Wie nimmt Charlie denn die ganze Sache auf?«

»Die Isolierung? Ach, das kümmert ihn nicht übermäßig, obwohl, er meinte, er müsste Boomer inzwischen Rinderhack zu fressen geben. Der Laster liefert kein Hundefutter. Hauptsächlich macht er sich Sorgen um das Auge.«

»Was ist mit dem Auge?«

»Es gab wieder eine kleine Kaskade von technischen Störungen, während ich da war.«

»Tatsächlich? Ich habe gar keine Mitteilung darüber bekommen.«

»Charlie meint, es seien nur die üblichen Unregelmäßigkeiten, aber sie treten in letzter Zeit häufiger auf — Überspannungen und eine etwas ausgefranste Ein-/Ausgabe. Was ihm aber wirklich zu schaffen macht, glaube ich, ist die Möglichkeit, dass jemand den Stecker ziehen könnte. Er hat diese O/BEKs so lange betreut, dass sie fast so etwas wie Kinder für ihn geworden sind.«

»Das ist doch alles Blödsinn«, sagte Marguerite, »dieses Gerede vom Abschalten«, doch es klang nicht sehr überzeugend, nicht einmal für sie selbst. Sie machte einen unbeholfenen Versuch, das Thema zu wechseln. »Normalerweise reden Sie nicht viel über Ihre Arbeit.«

Sie hatte ihren Drink schon halb ausgetrunken und fühlte, wie der Alkohol sich lächerlich schnell durch ihren Körper arbeitete, sie schläfrig machte, aber auch leichtsinnig.

»Ich versuche, sie von Ihnen und Tess fernzuhalten«, sagte Chris. »Ich bin dankbar, überhaupt hier sein zu können. Da will ich nicht auch noch meine Probleme auftischen.«

»Ach, nicht doch. Wir kennen uns jetzt, wie lange, mehr als einen Monat? Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht wahr ist, was immer die Leute über Ihr Buch sagen. Sie kommen mir nicht verlogen oder boshaft vor.«

»Verlogen oder boshaft? Das ist es, was die Leute sagen?«

Marguerite wurde rot.

Aber Chris lächelte. »Hab ich alles schon gehört, Marguerite.«

»Ich würde das Buch gerne mal lesen.«

»Seit der Abriegelung kann man es nicht mehr downloaden. Vielleicht wirkt sich das für mich vorteilhaft aus.« Sein Lächeln verlor ein wenig an Überzeugungskraft. »Ich kann Ihnen aber ein gedrucktes Exemplar geben.«

»Da würde ich mich freuen.«

»Und ich freue mich über das Vertrauensvotum. Marguerite?«

»Ja?«

»Was würden Sie davon halten, mir ein Interview zu geben? Über Blind Lake, die Belagerung, wie Sie damit umgehen?«

»O Gott.« Die Frage war nicht das, was sie erwartet hatte. Aber was hatte sie erwartet? »Na ja, nicht heute Abend.«

»Nein, nicht heute Abend.«

»Das letzte Mal, dass mich jemand interviewt hat, das war für die Schülerzeitung an der Highschool. Über mein Naturwissenschaftsprojekt.«

»Gutes Projekt?«

»Erster Preis. Stipendium. Es ging um mitochondrische DNA, damals wollte ich noch Genetikerin werden. Ziemlich heftiges Zeug für die Tochter eines Geistlichen.«

Spontan — oder vielleicht auch ein wenig betrunken — legte Marguerite ihre Hand auf den Tisch, mit der Innenfläche nach oben. Es war eine Geste, die er ohne Weiteres ignorieren konnte. Und es würde kein Schaden entstehen, wenn er sie ignorierte.

Chris sah die Hand an, vielleicht ein paar Augenblicke zu lange, dann legte er seine obenauf. Tat er es gerne? Widerstrebend, unwillig?

Es war angenehm, seine Hand zu spüren. Kein männlicher Erwachsener hatte ihre Hand gehalten, seit sie Ray verlassen hatte — nicht dass Ray ein großer Händchenhalter gewesen wäre. Sie stellte fest, dass sie Chris nicht in die Augen sehen konnte. Ein wenig noch ließ sie den Augenblick sich dehnen, dann zog sie, verlegen grinsend, ihre Hand zurück. »Ich muss ins Bett«, sagte sie.

»Schlafen Sie gut«, sagte Chris.

»Sie auch«, antwortete sie und fragte sich, worauf sie sich da einließ.

Bevor sie in ihr Schlafzimmer ging, warf sie noch kurz einen Blick auf die Direktübertragung aus dem Auge.

Es tat sich nicht viel. Das Subjekt setzte seine seit zwei Wochen andauernde Odyssee fort. Es war schon weit auf der nach Osten führenden Straße gekommen, und gerade wanderte es unverdrossen in einen neuen Morgen hinein. Seine Haut schien immer grauer zu werden, aber das lag wahrscheinlich nur am Staub. Seit Monaten hatte es nicht mehr geregnet, was allerdings typisch war für die Sommermonate in diesen Breiten des Planeten.

Selbst die Sonne schien ihr trüber als sonst, bis ihr auffiel, dass ein ungewöhnlich dichter Dunst herrschte, und besonders dicht im Nordosten, fast wie eine heranziehende Unwetterfront. Wahrscheinlich könnte sie die Meteorologie mal dazu befragen. Morgen.

Bevor sie schließlich endgültig zu Bett ging, spähte Marguerite noch einmal in Tessas Zimmer.

Tess schlief fest. Die kaputte Fensterscheibe neben ihrem Bett war noch immer durch Chris' Plastik-und-Furnier-Konstruktion geschützt, sodass das Zimmer behaglich warm war. Dunkelheit draußen und drinnen. Keine Spiegelungen zu befürchten. Nichts zu hören außer Tessas leises Atmen.

Und plötzlich, in der Stille des Hauses, begriff Marguerite, für wen sie ihre Erzählung schrieb. Nicht für sich selbst. Schon gar nicht für andere Wissenschaftler. Und auch nicht für die Öffentlichkeit.

Sie schrieb sie für Tess.

Die Erkenntnis setzte einen Energieschub frei, verjagte die Aussicht auf Schlaf. Sie ging zurück in ihr Büro, machte die Schreibtischlampe an und holte ihr Heft hervor. Sie schlug es auf und schrieb:

Vor mehr als fünfzig Jahren gab es, auf einem Planeten in so großer Entfernung, dass kein lebender Mensch je hoffen darf, dort hinreisen zu können, eine Stadt aus Fels und Sandstein. Die Stadt war ähnlich groß wie die größeren unserer Städte und ihre Türme ragten hoch hinauf in die dünne trockene Luft jener Welt. Die Stadt war auf einer staubigen Ebene erbaut worden, im Angesicht hoher Berge, deren Spitzen sogar während des langen Sommers von Schnee bedeckt waren. Jemand lebte dort, jemand, der nicht ganz ein Mensch war, aber doch auf seine eigene Art eine Persönlichkeit, sehr verschieden von uns, doch in vieler Hinsicht auch ähnlich. Der Name, den wir ihm gaben, lautete »Subjekt« …

Fünfzehn

Sue Sampel begann wieder Gefallen an den Wochenenden zu finden, trotz der weiter fortdauernden Abriegelung. Eine Zeit lang war es eine Regen-Traufe-Situation gewesen: die Wochentage mit Arbeit gefüllt, aber getrübt durch die seltsamen Anfälle und die allgemeine Unfreundlichkeit ihres Chefs; die Samstage und Sonntage dagegen waren sehr ruhig und melancholisch, weil sie nicht ins Auto springen und nach Crossbank fahren konnte, um sich zu amüsieren. Zuerst hatte sie sich an den Wochenenden mehr oder weniger zugekifft, um sich gegen die innere Unruhe zu wappnen, aber irgendwann waren ihre Vorräte zur Neige gegangen (auch dies ein Artikel, der im Lieferumfang des schwarzen Lasters nicht enthalten war). Dann lieh sie sich eine Handvoll Romane von Tiffany Arias von einer Kollegin in der Plaza aus, fünf dicke Schwarten über eine Kriegskrankenschwester in Shiugang, die zwischen ihrer Liebe zu einem Aufklärerpiloten der Airforce und einer heimlichen Affäre mit einem dem Alkohol verfallenen Waffenschmuggler hin und her gerissen ist. Sue fand die Bücher ganz okay, doch sie waren nur ein unzulänglicher Ersatz für Cannabis der Marke Green Girl Canadian (regelmäßig, aber illegal importiert aus dem Nördlichen Wirtschaftlichen Protektorat), von dem sie noch sieben Gramm in einer Keksdose in ihrer Sockenschublade aufbewahrte.