Dann aber stand plötzlich Sebastian Vogel vor ihrer Tür, mit einem Einquartierungsnachweis von Ari Weingart und einem verbeulten braunen Koffer. Auf den ersten Blick wirkte er nicht sehr vielversprechend. Ganz niedlich vielleicht, so auf die Weihnachtselfenart, schon auf die sechzig zugehend, ein bisschen übergewichtig, auf dem glänzend kahlen Kopf Reste eines grauen Haarkranzes, ein buschiger rotgrauer Bart. Er war offensichtlich schüchtern — stotterte, als er sich vorstellte —, und, schlimmer noch, Sue gewann den Eindruck, dass er irgendeine Art Geistlicher oder pensionierter Pastor war. Er versprach, er werde »keinerlei Umstände machen«, und sie befürchtete, dass er vermutlich genau das tun würde.
Am Tag darauf hatte sie Ari nach ihm befragt. Ari sagte, Sebastian sei Akademiker im Ruhestand, kein Priester, und derzeit Teil einer Dreiergruppe von Journalisten, die in Blind Lake gestrandet seien. Sebastian habe ein Buch geschrieben mit dem Titel Gott & das Quantenvakuum — Ari lieh ihr ein Exemplar. Das Buch war sehr viel trockener als ein Roman von Tiffany Arias, allerdings auch ein ganzes Stück gehaltvoller.
Dennoch blieb Sebastian Vogel nicht viel mehr als ein stiller Teilhaber im Haushalt, bis zu jenem Abend, als er sie dabei ertappte, wie sie sich auf dem Küchentisch einen Joint drehte.
»Na, so was«, sagte Sebastian von der Tür her.
Es war zu spät, die Keksdose oder das Zigarettenpapier zu verstecken. Schuldbewusst versuchte Sue, einen Witz daraus zu machen. »Ähm«, sagte sie, »möchten Sie einen mitrauchen?«
»O nein, ich möchte nicht …«
»Schon gut, ich verstehe vollkommen …«
»Ich möchte nicht Ihre Gastfreundschaft ausnutzen. Aber ich hätte da noch fünfzehn Gramm in meinem Gepäck, falls Sie Lust haben, mit mir zu teilen.«
Danach wurde es besser.
Er war fünfzehn Jahre älter als Sue und sein Geburtstag war am neunten Januar. Als der näher rückte, teilte sie bereits ihr Bett mit ihm. Sue mochte ihn sehr — und man hatte viel mehr Spaß mit ihm, als sie je vermutet hätte —, aber sie wusste auch, dass das Ganze wahrscheinlich eine »Abriegelungsromanze« war, eine Bezeichnung, die sie in der Betriebs-Cafeteria aufgeschnappt hatte. In der ganzen Stadt schossen Abriegelungsromanzen aus dem Boden. Die Gefühlskombination aus Beengtheit und ständiger Angst erwies sich als echtes Aphrodisiakum.
Sein Geburtstag fiel auf einen Samstag, und Sue plante schon seit Wochen darauf hin. Eigentlich hatte sie ihm einen Geburtstagskuchen besorgen wollen, aber es gab keine Backmischungen im Laden, und aus der hohlen Hand einen Kuchen selber backen zu wollen, kam nicht infrage.
Also war sie auf die zweitbeste Lösung verfallen. Und hatte auf ihren Einfallsreichtum zurückgegriffen.
Sie trug den Kuchen ins Wohnzimmer; eine einzelne Kerze steckte darin. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagte sie.
Es war kein besonderer Kuchen. Aber er hatte symbolischen Wert.
Sebastians kleiner Mund kräuselte sich zu einem nur teilweise vom Schnäuzer verdeckten Lächeln. »Das ist ja zu … zu nett! Sue, ich danke dir!«
»Ach, ist doch nichts weiter«, sagte sie.
»Doch, es ist toll!« Er bewunderte den Kuchen. »Ich hab schon seit Wochen keine solchen Luxusartikel mehr gesehen. Wo hast du ihn her?«
Es war eigentlich gar kein Kuchen. Sondern ein DingDong mit einer Geburtstagskerze darin. »Das willst du doch gar nicht wissen«, sagte Sue.
Für Samstag hatte Sebastian sich bereit erklärt, mit seinen Freunden im Sawyer's zu Mittag zu essen. Er bat Sue, mitzukommen.
Sie war einverstanden, wenn sie auch Zweifel hegte. Sue hatte vor ungefähr zwanzig Jahren einen Bachelor-Abschluss gemacht, aber der hatte ihr nicht mehr eingetragen als diese bessere Büroarbeit in Blind Lake. Sie war aus zu vielen fachlichen Diskussionen ausgeschlossen worden, um Vergnügen an einer einschlägigen Unterhaltung zwischen Wissenschaftsjournalisten finden zu können. Sebastian versicherte ihr, dass es nichts dergleichen werden würde. Seine Freunde seien Schriftsteller, keine Wissenschaftler. »Offen und direkt, aber nicht snobistisch.«
Schon möglich, sagte sie sich, vielleicht aber auch nicht.
Sue fuhr Sebastian, der kein eigenes Auto zur Verfügung hatte, zu Sawyer's, wo sie bei leichtem Schneetreiben parkten. Der Wind war frisch, die Sonne lugte nur hin wieder aus den Wolkenschluchten hervor. Im Restaurant herrschte eine schläfrige Wärme und Feuchtigkeit.
Sebastian machte sie mit Elaine Coster bekannt, einer mageren, säuerlich dreinblickenden Frau, die nicht viel älter war als Sue selbst, sowie mit Chris Carmody, Letzterer erheblich jünger, groß und etwas grimmig, aber auf zerzauste Weise gut aussehend. Chris war freundlich, Elaine hingegen sagte nach einem schlaffen Händedruck: »Na, Sebastian, in Ihnen steckt ja mehr, als wir gedacht hätten.«
Sue wunderte sich über die Feindseligkeit, ja den Hohn in der Stimme der Frau und über Sebastians offenbar gleichmütige Reaktion.
Serviert wurde das seit der Abriegelung unvermeidliche Mittagessen: Suppe und Sandwiches. Sue gab höfliche Laute von sich, beschränkte sich aber ansonsten darauf, dem Gespräch der anderen zu lauschen. Sie politisierten über Blind Laker Angelegenheiten, unter anderem mit Bezug auf gewisse Spekulationen Ray Scutter betreffend, und machten sich Gedanken über die immer wiederkehrende Frage der Belagerung. Sie tauschten Erinnerungen aus über Leute, von denen Sue noch nie gehört hatte, sodass sie schließlich das Gefühl gewann, das man sie gar nicht mehr auf der Rechnung hatte, obwohl Sebastians Hand die ganze Zeit auf ihrem Schenkel unter dem Tisch lag und sie zur Bestärkung von Zeit zu Zeit drückte.
Schließlich kam ein bisschen Klatsch zur Sprache, mit dem sie etwas anfangen konnte. Es stellte sich heraus, dass Chris bei Ray Scutters Ex wohnte, und Ray offenbar vor ein paar Wochen eine kleine Macho-Show vor der Ambulanz abgezogen hatte. Es klang nach einer typischen Kotzbrockigkeit à la Ray Scutter, und Sue enthielt sich nicht, das zu sagen.
Elaine starrte sie auf enervierende Weise an. »Was wissen Sie über Ray Scutter?«
»Ich leite sein Büro.«
Ihre Augen weiteten sich. »Sie sind seine Sekretärin?«
»Leitende Assistentin. Na ja, gut, Sekretärin im Grunde.«
»Hübsch und talentiert«, sagte Elaine zu Sebastian, der darauf nur sein undurchdringliches Lächeln aufsetzte. Sie konzentrierte sich wieder auf Sue, die gegen den Drang ankämpfte, vor dem Laserblick der Frau zurückzuweichen. »Also, was alles wissen Sie über Ray Scutter?«
»Was sein Privatleben betrifft, nichts. Was die Arbeit betrifft, so ziemlich alles.«
»Er redet mit Ihnen darüber?«
»Gottchen, nein. Ray lässt sich nicht gern in die Karten gucken, hauptsächlich, weil er das Ass der Inkompetenz in der Hand hält. Kennen Sie das, wenn Leute, die überfordert sind, sich mit allerlei Routinearbeit beschäftigen, um wenigstens den Anschein zu erwecken, dass sie sich nützlich machen? Nun, das ist Ray. Er teilt mir nichts mit, aber die Hälfte der Zeit muss ich ihm seinen Job erklären.«
»Wissen Sie«, sagte Elaine. »Es gibt Gerüchte über Ray.«
Oder vielleicht, dachte Sue, bin auch ich überfordert. »Was für Gerüchte?«
»Dass Ray sich in die Server der Leitungsebene einhacken will, um deren E-Mails zu lesen.«
»Oh. Na ja, das ist …«
Ein Summen ertönte. Chris Carmody zog sein Telefon aus der Tasche, wandte sich ab und flüsterte in die Muschel. Elaine warf ihm einen giftigen Blick zu.
Als er sich wieder dem Tisch zuwandte, sagte er: »Tut mir leid, Leute, ich muss los. Marguerite braucht jemanden, der auf ihre Tochter aufpasst.«