Subjekt schob sich, den Rumpf nach vorn gebeugt, ins Undurchsichtige hinein. Sein Bild verblasste, wurde klarer, verblasste erneut. »Charlie hat Angst, dass sie ihn ganz verlieren«, sagte Marguerite. »Ich fahr hin zum Auge.«
Chris folgte ihr nach unten. Tess saß im Wohnzimmer, verfolgte das Samstagvormittagsprogramm von Blind-Lake-TV. Ein Zeichentrickfilm: Kaninchen mit riesigen Brillen, die in mittelalterlichen Bechern und Destillierapparaten Karotten anbauten. Ihr Kopf schlug in regelmäßigem Rhythmus sanft gegen die Sofalehne.
»Du hast gesagt, wir würden rodeln gehen«, rief Tess.
»Schätzchen, es ist ein Notfall bei der Arbeit. Hab ich dir doch gesagt. Chris ist da und passt auf dich auf, okay?«
»Ich könnte doch mit ihr rodeln gehen«, schlug Chris vor. »Es ist allerdings ein ziemlich weiter Weg.«
»Echt?«, fragte Tess. »Können wir?«
Marguerite schürzte die Lippen. »Ich denke schon, aber ich möchte nicht, dass ihr hin und zurück zu Fuß geht. Mrs. Colangelo hat angeboten, dass wir ihr Auto ausleihen könnten, falls wir es mal brauchen — Chris kann sich darum kümmern.«
Er versprach, dass er nachfragen würde. Tess war beschwichtigt, und Marguerite schlüpfte in ihre Winterjacke. »Falls ich nicht bis zum Abendessen zurück bin, findet ihr im Gefrierschrank, was ihr braucht. Seid kreativ.«
»Wie ernst ist das Problem?«
»Es war eine mühsame und heikle Arbeit, die O/BEKs darauf zu trainieren, sich auf ein einzelnes Individuum zu fixieren. Falls wir das Subjekt im Sturm verlieren, kriegen wir es vielleicht nicht wieder zurück. Schlimmer noch ist, dass es immer wieder zu Signalverfall kommt, und Charlie weiß nicht, was die Ursache sein könnte.«
»Und Sie glauben, dass Sie helfen können?«
»Nicht im technischen Bereich. Aber es gibt Leute in der Plaza, die liebend gern diese Gelegenheit nutzen würden, um sich vom Subjekt zurückzuziehen. Das will ich verhindern. Also mische ich mich ein.«
»Viel Glück.«
»Danke. Und danke, dass Sie Tess Gesellschaft leisten. Egal wie, ich werde zurück sein, bevor sie zu Bett geht.«
Sie eilte aus dem Haus.
Im Interesse der journalistischen Kameradschaft rief Chris Elaine an und berichtete von der sich im Auge entwickelnden Krise. Sie sagte, sie wolle sehen, was sie herausfinden könne. »Die Sache wird merkwürdig«, sagte sie. »Ich kriege dieses Luken-dichtmachen-Gefühl.«
Er musste zugeben, dass er selbst ein bisschen unruhig war. Fast vier Monate Quarantäne inzwischen, und das bedeutete, so hartnäckig man auch versuchen mochte, den Vorgang zu ignorieren oder zu rationalisieren, dass etwas ungeheuer Schwerwiegendes passierte — vielleicht draußen, vielleicht drinnen. Etwas Schlimmes, etwas Gefährliches, etwas derzeit noch Verborgenes, das irgendwann unter dramatischem Getöse ans Tageslicht kommen würde.
Als Geschäftsführerin des Bekleidungsgeschäfts im Einkaufszentrum von Blind Lake befand sich Mrs. Colangelo seit der Abriegelung praktisch im Ruhestand. Sie stellte Chris ihren kleinen limettengrünen Marconi-Roadster zur Verfügung, und Tess packte ihren altmodischen Holzschlitten in den Kofferraum. Die meisten Kinder benutzten Snowtubes oder Schlitten aus Plastik, erläuterte Tess, aber sie hatte dieses Gerät (ein echt originaler Rodelschlitten, wie sie beteuerte) in einem Trödelladen entdeckt und ihre Mutter angefleht, es zu kaufen. Das war noch in Crossbank gewesen, wo es hügeliger war als in Blind Lake, aber auch ziemlich dicht bewaldet — hier konnte man wenigstens nicht gegen irgendwelche Bäume fahren.
Noch immer stellte Tess ein gewisses Rätsel für Chris dar. In vielerlei (vielleicht allzu vieler) Hinsicht erinnerte sie ihn an seine Schwester Portia — der Eigensinn, die Unberechenbarkeit, die gelegentliche Kratzbürstigkeit. Aber Portia hatte viel und gerne geredet, vor allem, wenn sie etwas entdeckt hatte, für das sie sich begeistern konnte. Tess aber sprach nur sporadisch.
Auch jetzt schwieg sie in den ersten fünf Minuten der Fahrt, doch offenbar dachte sie währenddessen auch an Portia. »Ist deine Schwester je rodeln gegangen?«, fragte sie schließlich.
Seit dem Fenstervorfall war sie mehrfach zu ihm gekommen, um weitere Porry-Geschichten zu hören. Als Einzelkind schien Tess fasziniert davon, sich Chris als älteren Bruder vorzustellen — weniger als ein Elternteil, mehr als einen Freund. Sie schien zu glauben, dass Portia ein zauberhaftes Leben geführt habe. Dem war nichts so. Portia lag auf einem verregneten Friedhof in Seattle begraben, Opfer der tödlichen Krankheit des Erwachsenseins in ihrer gravierendsten Ausprägung. Das sagte er Tess natürlich nicht. »Dort wo wir aufgewachsen sind, hat es nicht viel geschneit. Das Einzige in Richtung Rodeln, was wir gemacht haben, war Snowtubing in einem kleinen Ferienort in den Bergen.«
»Mochte Portia das?«
»Zuerst nicht. Zuerst hatte sie ziemliche Angst. Aber nach ein paar Abfahrten fand sie dann doch, dass es Spaß macht.«
»Ich glaube, sie mochte es«, sagte Tessa. »Außer dass man davon anfängt zu frieren.«
»Das stimmt, die Kälte mochte sie nicht so gern.«
Elaine hatte ihm vorgeworfen, er würde bei Marguerite »einen auf Häuslichkeit machen«. Er fragte sich, ob das stimmte. In den letzten Wochen war er in der Tat zu einem nicht ganz unbedeutenden Teil von Marguerite und Tessa Hausers Universum geworden, fast wider Willen. Nein, das war falsch; nicht wider Willen; vielmehr hatte er jeden einzelnen Schritt willentlich und bewusst gemacht. Aber die Schritte hatten sich zu einer so ganz gewiss nicht geplanten Reise summiert.
Noch war er nicht mit Marguerite ins Bett gegangen, aber sämtliche Signale, die er auffing und lesen konnte, zeigten an, dass es genau das war, wo ihn die Reise hinführen würde. Und es ging dabei durchaus nicht um ein nettes kleines, zeitlich begrenztes Geschäft auf Gegenseitigkeit, einen One-Night-Stand oder auch eine offizielle Abriegelungsromanze, einen Austausch von Wärme ohne weitere — ob stillschweigend oder explizit eingegangene — Verpflichtung. Nein, der Einsatz war höher, sehr viel höher.
Wollte er das?
Er mochte Marguerite, er mochte alles an Marguerite. Jede Unterhaltung zu später Stunde — und davon hatte es zuletzt eine Menge gegeben — hatte sie ihm näher gebracht. Sie war eine freigebige Geschichtenerzählerin. Sie sprach offen über ihre Kindheit (sie hatte mit ihrem Vater in einem presbyterianischen Pfarrhaus gelebt, einem siebzig Jahre alten Gebäude mit Holzveranda, in einem Vorort von Cincinnati, einer reinen Schlafsiedlung mit Bahnanschluss), über ihre Arbeit, über Tess; weniger oft und eher zögerlich über ihre Ehe. Ihr bis dahin recht behütetes Leben hatte sie in keiner Weise auf einen Mann wie Ray vorbereitet, der ihr zwar seine Liebe beteuert hatte, der aber in Wirklichkeit nur sein Leben — um der Konvention zu entsprechen — mit einer Frau ausstaffieren wollte, und für den Grausamkeit die letzte Zuflucht der Sexualität war. Solche Männer gab es zwar reichlich auf der Welt, aber Marguerite war vorher nie einem begegnet. Was folgte, war ein neunjähriger Albtraum verspäteter Aufklärung.
Und was sah sie in Chris? Nicht unbedingt den Anti-Ray, aber vielleicht eine gutartigere Version von Männlichkeit, jemanden, dem sie sich anvertrauen, an den sie sich anlehnen konnte, ohne Furcht vor Vergeltung. Diese Sicht auf seine Person schmeichelte ihm, aber sie war naiv. Nicht dass er liebesunfähig gewesen wäre. Er hatte seine Arbeit geliebt, er hatte seine Familie geliebt, er hatte seine Schwester Portia geliebt, aber alles, was er liebte, war ihm tendenziell in den Händen zerbrochen, zerstört durch sein ungeschicktes Bemühen, es zu beschützen.