Er würde sie niemals so verletzen, wie Ray es getan hatte, aber auf die Dauer mochte er sich als ähnlich gefährlich für sie erweisen.
Tess hatte ihm gesagt, wo das beste Rodelgebiet war, bei den niedrigen Hügeln einen halben Kilometer hinter Eyeball Alley, wo die Zufahrtsstraße in einer gepflasterten Sackgasse endete. Die Kühltürme der Alley erhoben sich links von der Straße, dunkle Wächter in einer weißen Landschaft. Wieder brach Tess das Schweigen: »Hatte Portia Probleme in der Schule?«
»Klar. Die hat doch jeder, hin und wieder.«
»Ich hasse den Sportunterricht.«
»Ich bin nie am Seil hochgekommen«, gestand Chris.
»Seilklettern machen wir noch nicht. Aber wir müssen so bescheuerte Sportklamotten tragen. Hatte Portia je Albträume?«
»Manchmal.«
»Was waren das für welche?«
»Tja — sie hat nicht gern darüber geredet, Tess, und ich habe versprochen, sie nicht weiterzuerzählen.«
Tess sah ihn prüfend an. Sie überlegte, ob sie ihm vertrauen konnte, dachte Chris. Tess teilte ihr Vertrauen mit Zurückhaltung aus. Das Leben hatte sie gelehrt, dass nicht jeder Erwachsene vertrauenswürdig war — eine bittere Lektion, aber nützlich und hilfreich.
Doch wenn er Portias Geheimnisse nach so langer Zeit noch bewahrte, dann würde er vielleicht auch Tessas bewahren. »Hat meine Mama dir von Mirror Girl erzählt?«
»Nö. Wer ist Mirror Girl?«
»Das ist das, was mit mir nicht stimmt.« Ein weiterer Blick von der Seite. »Du wusstest, dass irgendwas mit mir nicht stimmt, oder?«
»Ich hab mich schon ein bisschen gewundert an dem Abend, als wir in die Ambulanz mussten.«
»Ich sehe sie in Spiegeln. Deswegen nenne ich sie Mirror Girl.« Sie machte eine Pause. »An dem Abend hab ich sie im Fenster gesehen. Sie hat mich total überrascht. Da bin ich wohl wütend geworden.«
Chris spürte die Gewichtigkeit des Geständnisses. Er fühlte sich geschmeichelt. Tess war von ganz allein darauf zu sprechen gekommen. Er nahm den Fuß ein wenig vom Gaspedal, um die Fahrt zu strecken.
»Sie sieht aus wie ich, aber sie ist nicht ich. Das ist es, was keiner versteht. Also, was glaubst du? Bin ich verrückt?«
»Du machst auf mich keinen verrückten Eindruck.«
»Ich rede nicht darüber, weil die Leute glauben, dass ich einen an der Waffel habe. Hab ich ja vielleicht.«
»Es passieren nun mal Dinge, die wir nicht verstehen. Das heißt nicht, dass du einen an der Waffel hast.«
»Wieso kann niemand sonst sie sehen?«
»Ich weiß es nicht. Was will sie denn?«
Tess zuckte gereizt die Achseln. Offenbar eine Frage, die ihr schon allzu oft gestellt worden war. »Das sagt sie nicht.«
»Spricht sie?«
»Nicht mit Worten. Ich glaube, sie will einfach, dass ich aufmerksam bin, auf Sachen achte. Ich glaube, sie kann nicht aufmerksam sein, wenn ich nicht aufmerksam bin — ergibt das irgendeinen Sinn? Aber das hab ich mir nur so zurechtgelegt. Es ist bloß eine Theorie.«
»Portia hat manchmal mit ihren Spielsachen gesprochen.«
»So ist es nicht. Das ist ja Kinderkram.« Sie verdrehte die Augen, »Edie Jerundt spricht mit ihren Spielsachen.«
Lieber nicht weiter drängen. Es war genug, dass Tess sich ihm überhaupt anvertraut hatte. Er fuhr schweigend zum Ende der Straße, wo an der Wendeschleife schon ein halbes Dutzend Autos parkten.
Der steilste Hang des schneeweißen Hügels war übersät von Rodlern, Boardern und geduldigen Eltern.
»Viele Flugzeuge unterwegs heute«, sagte Tess, als sie aus dem Auto stieg.
Chris blickte zum Himmel, sah aber nichts als einen silbernen Fleck fern am Horizont. Wieder eine von diesen kryptischen Tess-Bemerkungen. »Hilfst du mir, den Schlitten raufzuziehen?«
»Aber sicher.«
»Fährst du mit mir runter?«
»Wenn du willst. Aber ich warne dich, ich habe ewig nicht mehr auf einem Schlitten gesessen.«
»Ich denke, du hattest gar keinen Schlitten. Du hast gesagt, ihr hättet nur Snowtubing gemacht.«
»Ich meinte, ich bin ewig nicht mehr einen Hügel runtergerutscht.«
»Seit Portia klein war?«
»Genau.«
»Na, dann komm«, sagte Tess.
Die ganze Zeit war sich Tess der zunehmenden und beharrlichen Gegenwart Mirror Girls bewusst.
Mirror Girl glitt durch jede spiegelnde Oberfläche, wie ein schlüpfriger Geist. Mirror Girl flackerte über die Fenster, die glänzend blaue Motorhaube und die Seitenteile des Autos. Tess war sich sogar der wenigen Schneeflocken bewusst, die aus dem hohen grauen Himmel fielen. Sie hatte Schneeflocken im Sachkundeunterricht studiert: als Beispiele für Symmetrie. Eis, dachte sie, wie Glas, in Reflexionswinkel gefaltet. Sie stellte sich Mirror Girl in sämtlichen unsichtbaren Facetten des fallenden Schnees vor.
Im Grunde war Tess ein bisschen übel. Mirror Girl bedrängte sie wie ein schwerer, atemberaubender Nebel, bis sie kaum noch an etwas anderes denken konnte. Vielleicht hatte sie Chris zu viel erzählt. Den Namen Mirror Girl auszusprechen, war wahrscheinlich keine so gute Idee gewesen. Vielleicht mochte Mirror Girl es nicht, wenn man über sie sprach.
Aber Tess hatte sich schon die ganze Woche auf diesen Rodelausflug gefreut und hatte keine Lust, ihn sich jetzt von Mirror Girl vermiesen zu lassen.
Sie erlaubte Chris, den Schlitten bis zum höchsten Punkt des Hügels zu ziehen. Es gab einen sanften Anstieg auf der einen und dann eine steile Abfahrt auf der anderen Seite. Tess war ein bisschen außer Atem, als sie oben angelangt waren, aber die Aussicht gefiel ihr. Komisch, dass man von einem eher kleinen Hügel so viel mehr sehen konnte als von unten. Hier waren die dunklen Türme von Eyeball Alley, dort die weißen Quadrate der Hubble Plaza sowie die Geschäfte und Häuser rundherum. Die Straßen sahen aus wie auf einem Stadtplan, gerade und messerscharf geführt; die Straße nach Constance schnitt wie eine in weißes Metall geätzte Linie durch das Südtor und weiter in die verschneite Ferne. Wind zupfte an Tessas Haaren, sie nahm ihre Schneemütze aus der Jackentasche und zog sie sich über den Kopf, fast bis zu den Augen hinunter.
Sie schloss die Augen und sah Flugzeuge. Warum Flugzeuge? Mirror Girl machte sich im Moment große Sorgen um Flugzeuge.
Um ein kleines Flugzeug mit Propellern und einen größeren Düsenjet, der auf das erste niederschoss wie ein Raubvogel. Wo? Der Himmel war zu bewölkt, um viel erkennen zu lassen, wenngleich die Wolken eher dünn waren und ziemlich hoch. Das Summen in ihren Ohren konnte ein Flugzeug sein, dachte Tess, oder vielleicht auch nur der Wind, der mit dem Kragen ihrer Jacke spielte, oder das eigene Blut, das in den Ohren pulsierte.
Ihre Finger kribbelten, aber ihr Körper unter der Kleidung war warm. Mir ist heiß, mir ist kalt, dachte sie.
»Tess?«, sagte Chris. »Alles in Ordnung?«
Wenn Leute ihr diese Frage stellten, hieß das normalerweise, dass sie sich gerade irgendwie seltsam benahm. Dass sie zu still dastand oder zu lange auf etwas starrte. Aber was kümmerte das die Leute? Was war so seltsam daran, dass man dastand und nachdachte?
Vielleicht war es das, was Mirror Girl sah oder was Tess sehen sollte: das große und das kleine Flugzeug. Das kleine war hellgelb und hatte Zahlen auf den Flügeln, aber keine militärischen Kennzeichen. Es war größer als die Flugzeuge, die die Felder besprühen, aber nicht viel. Es war ganz klar zu sehen, wenn sie die Augen schloss, aber auch verwirrend, so als würde sie aus zu vielen Blickwinkeln gleichzeitig auf das Flugzeug gucken. Es war ein facettiertes Flugzeug, ein Kaleidoskopflugzeug, ein Flugzeug in einem Spiegel mit vielen Knicken und Kanten.
Chris reichte ihr das Seil ihres Schlittens. Tess nahm es fest in die Hand und versuchte sich auf die Aufgabe des Rodeins zu konzentrieren — plötzlich schien es mehr eine lästige Prüfung als ein echter Spaß zu sein. Schnee knirschte und ächzte unter dem Gewicht der Holzkufen. Irgendwo am unteren Ende des Hanges wurde gelacht. Dann lenkten die Flugzeuge sie wieder ab. Nicht nur das kleine Flugzeug, sondern auch das große, der Jet, der noch immer weit weg war, aber das kleine Flugzeug hartnäckig verfolgte, und dann …