Tess ließ das Seil los. Der Schlitten setzte sich in Bewegung, rutschte unbemannt den Hügel hinunter, bevor Chris ihn einfangen konnte.
Chris kniete vor ihr. »Tess, was ist? Was ist los?«
Sie sah seine großen besorgten Augen, konnte aber nicht antworten. Der Jet war in wenigen Sekunden um Kilometer näher gekommen. Und jetzt flog etwas von dem Jet weg — es war eine Rakete, vermutete Tess — und es blitzte zwischen den beiden Flugzeugen auf wie eine Spiegelung in einem zerbrochenen Kristall.
Warum konnte niemand sonst es sehen? Warum rodelten und lachten die Leute auf dem Hügel immer noch? Waren sie wegen des Schnees verwirrt, wegen seiner Millionen und Abermillionen von Spiegeln? »Vielleicht sollten wir dich lieber nach Hause bringen«, sagte Chris, der offensichtlich auch nichts sah. Tess wollte hinzeigen. Sie hob den Arm, streckte den Finger aus; ihr Finger folgte dem unsichtbaren Kreisbogen der Rakete, eine Linie wie ein unendlich dünner Bleistiftstrich auf dem weißen Papier des Himmels; sie sagte: »Da …«
Aber da hörten alle die Explosion.
Charlie Grogan erwartete Marguerite vor seinem Büro in der Alley. »Kommen Sie mit runter ins Kontrollzentrum«, sagte er knapp. »Es wird immer verrückter.«
Charlie war sichtlich angespannt, als sie im Fahrstuhl standen. Das Auge war tief unten in der Erde, eine Ironie, an der Marguerite einst ihre Freude gehabt hatte. Das Juwel ist im Lotus, das Auge ist in der Erde. Damit ich dich besser sehen kann, mein Kind. So lustig kam ihr das jetzt nicht mehr vor. »Ich kann alle Anrufe aus der Plaza handeln«, sagte sie, »es sei denn, Ray ist selber dran. Wenn Ray anruft und den Vorgesetzten rauskehrt, kann ich nur noch so tun, als sei das Telefon kaputt.«
»Die Plaza ist im Moment nicht unser größtes Problem, ehrlich gesagt. Wir mussten beide Technikerschichten herbestellen. Sie haben einige von den Interface-Einheiten rausgerissen und ersetzt. Schlimmer noch«, sagte Charlie, »und das werden Sie überhaupt nicht gerne hören, wir haben großen Ärger mit den O/BEKs.«
Die O/BEKs. Man hatte sogar Charlie schon sagen hören, dass es sich um eine »Drück-den-Daumen-Technologie« handele. Marguerites Kenntnisse über Quanten-EDV waren sehr bescheiden; sie gab nicht vor, die Feinheiten der O/BEK-Zylinder zu begreifen.
Das Verbinden von mehreren O/BEKs zu einem sich selbst entwickelnden »organischen« Array war ein Experiment, das ihrer Ansicht nach überhaupt nicht hätte funktionieren dürfen. Die Ergebnisse waren unvorhersehbar, geradezu unheimlich, und sie erinnerte sich an das, was Chris gesagt (oder zitiert) hatte: Es könnte jederzeit zu Ende gehen. Konnte es, jawohl. Und vielleicht war dieser Zeitpunkt jetzt gekommen.
Aber, Gott, nein, dachte sie, nicht jetzt, wo sie kurz davor standen, tiefer greifende Erkenntnisse zu gewinnen, jetzt, wo das Subjekt in tödlicher Gefahr war.
Der Kontroll- und Interface-Raum war so bevölkert, wie Marguerite ihn noch nie erlebt hatte. Techniker drängten sich um die Systemmonitoren, einige von ihnen in hitziger Diskussion begriffen. Mit Entsetzen sah sie, dass der große Zentralbildschirm, der mit der Liveübertragung, vollkommen schwarz war. »Charlie, was ist passiert?«
Er zuckte die Achseln. »Kommunikationsabsturz. Vorübergehend, glauben wir. Es ist ein Eingabe-Ausgabe-Problem, kein vollkommenes Systemversagen.«
»Wir haben das Subjekt verloren?«
»Nein, wie gesagt, es hängt an den Interfaces. Das Auge beobachtet nach wie vor, aber wir haben Probleme, uns mit dem Auge zu verständigen.« Er deutete ein weiteres Achselzucken an, was so viel besagen sollte wie: Das ist es jedenfalls, was wir glauben.
»Ist so etwas schon einmal passiert?«
»So nicht, nein.«
»Aber Sie können es wieder hinkriegen?«
Er zögerte. »Wahrscheinlich«, sagte er schließlich.
»Vor zwanzig Minuten gab es noch ein Bild. Was hat es grad gemacht, als Sie es verloren haben?«
»Das Subjekt? Es hockte gerade hinter einer Art Hindernis, als alles grau wurde.«
»Glauben Sie, dass der Sturm die Ursache ist?«
»Marguerite, keiner weiß es. Wir verstehen nicht mal annähernd, was die O/BEKs machen. Sie können durch Steinwände gucken; ein Sandsturm sollte da eigentlich kein Problem sein. Aber die Sicht ist stark eingeschränkt, also muss das Auge sich vielleicht viel mehr anstrengen, um an einem beweglichen Ziel dranbleiben zu können; vielleicht ist es das, womit wir es hier zu tun haben. Wir können nicht mehr tun, als die Peripherieprobleme zu behandeln, sobald sie auftauchen. Die Temperatur kontrollieren, die Quantentröge stabil halten.« Er schloss die Augen und strich sich mit der flachen Hand über die stoppelige Kopfhaut.
Das ist es, was wir uns nicht gerne eingestehen, dachte Marguerite: dass wir eine Technologie benutzen, die wir nicht begreifen. Eine »dissipative Struktur«, die fähig ist, ihre eigene Komplexität zu erhöhen — fähig, in ihrem Wachstum über die Grenzen unseres geistigen Auffassungsvermögens hinauszugehen. Nicht eigentlich eine Maschine, sondern ein Prozess innerhalb einer Maschine, Evolution im Kleinformat, eine neue Lebensform eigener Art. Wir haben dabei nichts weiter getan, als den Anstoß gegeben, den Prozess auszulösen und ihn unseren Zwecken anzupassen. Was uns zur einzigen Spezies macht mit einem Auge, das komplexer ist als unser Gehirn.
Die Deckenlampen flackerten und wurden dunkler. Spannungsversorgungsmonitoren gaben schrillen Alarm.
»Bitte, Charlie«, sagte Marguerite. »Lassen Sie ihn nicht entgleiten.«
Chris war eben dabei, Tessas abrupter Handbewegung zu folgen, als er die Explosion hörte.
Es war kein besonders lautes Geräusch, nicht viel lauter als eine zugeschlagene Heckklappe, allerdings gewichtiger, voller rollender Untertöne, wie Gewitterdonnern. Er richtete sich auf und suchte den Himmel ab. Auch die anderen Rodler taten das, soweit sie nicht gerade mit ihren Schlitten auf dem Weg nach unten waren.
Zuerst sah er einen Rauchring, der sich ausdehnte, sehr blass vor dem Hintergrund der hohen Wolken und der blauen Himmelsabschnitte … dann das Flugzeug selbst, das in ziemlich weiter Ferne in einer gekrümmten Kurve zur Erde fiel.
Es fiel, war aber nicht hilflos. Der Pilot schien darum zu kämpfen, die Kontrolle zurückzugewinnen. Es war ein kleines Privatflugzeug, kanariengelb, nichts, was irgendwie mit Militär zu tun hatte; Chris sah es im Schattenriss, als es für einen Moment horizontal flog, parallel zur Straße nach Blind Lake und vielleicht noch knapp hundert Meter vom Boden entfernt. Es kam näher, begriff er. Wollte der Pilot die Straße vielleicht als Landebahn benutzen.
Dann aber kam der Flug wieder ins Stocken, das Flugzeug geriet wild ins Trudeln und stieß schwarzen Rauch aus.
Jetzt ging es erneut abwärts und jetzt kam es immer näher. »Runter«, sagte er zu Tess. »Runter auf den Boden. Sofort.«
Das Mädchen bewegte sich nicht, blickte erstarrt auf das Geschehen. Chris drückte sie in den Schnee und deckte sie mit seinem Körper ab. Einige Leute auf dem Rodelberg fingen an zu schreien. Davon abgesehen, war die Stille des Nachmittags geradezu unheimlich geworden: Die Flugzeugmotoren hatten ausgesetzt. Es müsste eigentlich mehr Lärm machen, dachte Chris. All das herunterfallende Metall.
Das Flugzeug traf am Nordende der Wendeschleife des Parkplatzes auf, nachdem es sich noch kurz hochreißen konnte, um die Kollision mit einem leuchtend roten Ford-Transporter zu vermeiden; die ganze kinetische Energie verwandelte sich in einen Schweif aus roten und gelben Trümmern, der Gräben und Krater in den tiefen Schnee schnitt. Tessas Körper erzitterte bei dem Geräusch. Die Splitter flogen nach Osten, vom Rodelberg weg, und sie prasselten noch immer mit vom Schnee gedämpften Schlägen nieder, als das Wrack in Flammen aufging.