Rings um das Subjekt waren Gebilde aus Stein zu erkennen: alte Säulen, pyramidenförmige Bauwerke, vom Sand halb abgetragene Fundamente. Die Ruinen einer Stadt.
DRITTER TEIL
Aufstieg des Unsichtbaren
Auf der Erde konnte der Mensch nicht weitergehen in der Überwindung der ihm durch Atmosphäre, Metalle und Optik gesetzten Schranken. Mit diesem gigantischen Spiegel, Hauptstück eines Teleskops, für dessen Bau sich Dutzende der größten Geister zusammengetan hatten, um in jahrelanger Arbeit ein Instrument von nie dagewesener Genauigkeit, Feinheit und Reichweite hervorzubringen, ausgestattet mit allen Apparaturen, die sich ein Astronom nur vorstellen und wünschen kann, war das Studium des Universums an einen Höhepunkt gelangt.
Siebzehn
Der Februar nahte, und als Marguerite von ihrer samstäglichen Rationszuteilung nach Hause fuhr, wurde ihr deutlich, wie sehr Blind Lake sich verändert hatte.
Gar nicht mal an der Oberfläche. Wann immer es schneite, kamen nach wie vor die Schneepflüge aus ihren Standorten hinter dem Einkaufszentrum hervor und machten die Straßen befahrbar. Noch immer brannten abends Lichter in den Fenstern. Alle hatten es warm und niemand musste hungern. Doch es hatte sich eine gewisse Schäbigkeit über die Stadt gelegt, etwas gleichsam Ungewaschenes. Es kamen keine Firmen mehr von außerhalb, um Schlaglöcher auszubessern oder die Schindel zu ersetzen, die bei den nachweihnachtlichen Stürmen von so vielen Dächern gerissen worden waren. Der Müll wurde weiter regelmäßig abgeholt und gesammelt, konnte aber nicht mehr abgefahren werden — die Stadtreinigungsleute hatten eine vorläufige Deponie bei den westlichen Ausläufern des Sees eingerichtet, nahe des Begrenzungszauns und möglichst weit entfernt von der Stadt und den geschützten Feuchtgebieten; dennoch wurde der Geruch vom Wind herangetragen, wie ein Vorbote des Verfalls, und an besonders windigen Tagen hatte Marguerite auch schon Papierfetzen und Lebensmittelverpackungen wie Steppenhexen am Einkaufszentrum entlangwehen sehen. Die Frage war so geläufig, dass niemand sich mehr die Mühe machte, sie explizit zu stellen: Wann wird es zu Ende gehen?
Denn es konnte jederzeit zu Ende gehen.
Tess war erschöpft und benommen vom Ort des Flugzeugabsturzes zurückgekehrt. Marguerite hatte sie in Decken eingewickelt, ihr heiße Suppe zu essen gegeben und sie anschließend ins Bett gesteckt. Tess hatte dann die Nacht durchgeschlafen — im Gegensatz zu Marguerite — und schien am nächsten Morgen wieder ganz die Alte zu sein. Schien war das Schlüsselwort. Zwischen Weihnachten und Neujahr hatte Tess Mirror Girl mit keinem Wort erwähnt, und es hatte keine einschlägigen Vorfälle gegeben; aber Marguerite waren die Sorgenfalten auf Tessas Gesicht nicht entgangen, und sie hatte im Schweigen ihrer Tochter etwas Gewichtigeres gespürt als ihre übliche Schüchternheit.
Nur äußerst widerstrebend hatte sie Tess zu ihrem einwöchigen Besuch bei Ray geschickt, aber es gab dazu keine Alternative. Hätte sie sich gesträubt, würde Ray mit einiger Sicherheit einen seiner Aushilfspolizisten vom Sicherheitsdienst geschickt haben, um Tess mit Gewalt abzuholen. Mit größtem Unbehagen hatte Marguerite daher ihrer Tochter geholfen, ihre wichtigsten Besitztümer in den Rucksack zu packen, und sie dann nach draußen begleitet, als Ray mit seinem kleinen scarabäusfarbenen Auto am Straßenrand hielt.
Ray war nur ein Schattenriss im dunklen Innenraum des Wagens geblieben, nicht willens, ihr sein Gesicht zu zeigen. Er sah irgendwie verschwommen aus, dachte Marguerite, wie eine verblassende Erinnerung. Sie sah, wie Tess ihn mit einer Fröhlichkeit begrüßte, die ihr als entweder aufgesetzt oder herzzerreißend naiv erschien.
Das einzig Positive an der Sache war, dass sie in der nun folgenden Woche mehr Zeit für Chris haben würde. Während sie in die Auffahrt bog, waren ihre Gedanken bei ihm.
Chris. Er hatte einen mächtigen Eindruck auf sie gemacht mit seinen verwundeten Augen und seiner offensichtlichen Courage. Gar nicht zu reden von der Art, wie er sie berührte: wie jemand, der in eine warme Quelle tritt und erst einmal die Temperatur prüft, bevor er ganz ins Wasser eintaucht. Guter Chris. Unheimlicher Chris.
Unheimlich, weil die Anwesenheit eines Mannes im Haus — und das intime Verhältnis zu ihm — unliebsame Erinnerungen an Ray wachrief, wenn auch allein über den Kontrast vermittelt. Der Geruch von Aftershave im Bad, eine auf den Schlafzimmerfußboden geworfene Männerhose, männliche Wärme, die in den Ritzen des Bettes hing … mit Ray waren ihr all diese Dinge irgendwann nur noch hassenswert erschienen, so unangenehm wie ein blauer Fleck. Aber mit Chris war es das genaue Gegenteil. Gestern hatte sie sich nicht nur bereit erklärt, seine Sachen mit zu waschen, sie hatte sich zudem dabei ertappt, wie sie verstohlen seinen Geruch aus einem Unterhemd einatmete, bevor sie es in die Maschine gab. Lächerlich, wie ein Schulmädchen, dachte Marguerite. Wie gefährlich verschossen sie in diesen Mann war.
Anzunehmen aber, dass es jedenfalls therapeutische Wirkung hatte — als würde man das Gilt aus einer Schlangenbisswunde ziehen.
Es wurde viel über »Abriegelungsromanzen« gesprochen. War dies eine Abriegelungsromanze? Marguerites Erfahrungen waren begrenzt. Ray war nicht nur ihr erster Ehemann, sondern auch ihre erste ernsthafte Liebschaft gewesen. Marguerite hatte, wie Tess, in der Schule zu den Außenseitern gehört: intelligent, aber linkisch, nicht besonders hübsch und immer zu schüchtern, um den Mund aufzumachen, wenn sie unter Leuten war. Jungen mit diesen Eigenschaften wurden als »Geeks« bezeichnet, aber die schienen wenigstens Trost in der Gemeinschaft mit anderen ihresgleichen zu finden. Marguerite hatte nie echte Freunde, egal welchen Geschlechts, gehabt, jedenfalls nicht vor dem Fachstudium. Dort immerhin hatte sie Kollegen gefunden, Leute, die ihr Talent respektierten, die sie für ihre Ideen schätzten und von denen einige tatsächlich zu Freunden geworden waren.
Vielleicht war das der Grund, warum Ray einen solchen nachhaltigen Eindruck auf sie gemacht hatte, als er Interesse an ihr zu zeigen begann. Ray war zehn Jahre älter als sie und schon mit avancierter Astrophysik beschäftigt, als sie noch darum kämpfte, eine Arbeitsmöglichkeit in Crossbank zu finden. Seine Meinungen tat er stets unverblümt kund, verstand es aber, Marguerite zu schmeicheln, und offensichtlich hatte er sie von Anfang an daraufhin taxiert, ob sie für eine Ehe infrage kam. Was Marguerite nun aber schmerzlich lernen musste, war, dass für manche Männer die Ehe ein Freibrief ist, die Maske fallen zu lassen und ihr wahres, schreckliches Gesicht zu zeigen. Und das war nicht nur eine Metapher: Es schien Marguerite, als hätte sein Gesicht sich tatsächlich verändert, als hätte er den sanften, nachgiebigen Ray aus ihrer Verlobungszeit so vollständig abgeworfen wie eine Schlange ihre alte Haut. Ihre Menschenkenntnis war ganz offensichtlich miserabel gewesen.
Was folgte daraus für Chris? Dass er eine Abriegelungsromanze war? Ein potenzieller zweiter Vater für Tess? Oder irgendwas dazwischen?
Und wie konnte sie auch nur ansatzweise eine Vorstellung von der Zukunft entwickeln, solange die Möglichkeit einer solchen Zukunft tatsächlich jederzeit entfallen konnte?
Chris hatte in seinem Kellerzimmer gearbeitet, aber er kam die Treppe hoch, als er sie in der Küche hantieren hörte, und sagte: »Hast du noch zu tun?«
Nun, das war eine interessante Frage. Es war Samstag, sie musste nicht arbeiten, aber wo begann die Arbeit und wo hörte sie auf? Über Monate hatte sie ihre Aufmerksamkeit zwischen Tess und dem Subjekt aufgeteilt, und jetzt war auch noch Chris da. Für heute hatte sie geplant, ihre Aufzeichnungen zu vervollständigen und die Direktübertragung im Auge zu behalten. Die Odyssee des Subjekts setzte sich fort, obwohl die Sandsturmkrise vorbei war und die Ruinenstadt bereits weit hinter ihm lag. Es hatte die Straße verlassen und stapfte jetzt durch leere Wüstenlandschaft. Sein körperlicher Zustand hatte sich in Besorgnis erregender Weise verändert, aber es passierte nichts wirklich Entscheidendes, jedenfalls nicht im Moment. »Was hast du denn vor?«