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»Der Zustand des Piloten, den ich aus dem Wrack gezogen habe, hat sich stabilisiert. Ich dachte, ich besuche ihn mal.«

»Ist er wach?« Marguerite hatte gehört, dass der Mann im Koma läge.

»Noch nicht.«

»Was für einen Sinn hat es dann, ihn zu besuchen?«

»Manchmal geht es einfach darum, Verbindung aufzunehmen.«

Zurück ins Auto, dann zurück auf die Straße mit Chris am Steuer, zurück durch den hellen, kalten Februarnachmittag und den vom Wind durch die Gegend getriebenen Abfall. »Wieso solltest du ihm etwas schuldig sein? Du hast ihm das Leben gerettet.«

»Auf Gedeih oder Verderb.«

»Wie kann es auf Verderb sein?«

»Er hat schwere Verbrennungen. Wenn er aufwacht, wird er höllische Schmerzen leiden. Nicht nur das — sicherlich würden Ray und seine Kumpel ihn gern verhören wollen.«

Wohl wahr. Niemand wusste, warum das kleine Flugzeug Blind Lake überflogen oder was der Pilot sich davon versprochen hatte, in eine ausgewiesene Flugverbotszone einzudringen. Aber der Vorfall hatte den Angstpegel in der Stadt merklich angehoben. In den vergangenen Wochen hatte es drei weitere Versuche gegeben, den Begrenzungszaun von innen her zu überwinden, jeweils durch Einzeltäter: einen Tagesarbeiter, einen Studenten und einen jungen Analysten. Alle drei waren von Pocketdrohnen getötet worden, wobei es der Analyst, der eine präparierte Thermojacke trug, um seine Infrarotsignatur zu verbergen, immerhin noch gut und gern fünfzig oder sechzig Meter weit geschafft hatte.

Keine der Leichen war geborgen worden. Sie würden immer noch da sein, dachte Marguerite, wenn im Frühling der Schnee schmolz. Wie Überbleibsel aus einem Krieg, verbrannt, gefroren und wieder aufgetaut: biologische Rückstände. Futter für die Geier. Gab es Geier in Minnesota?

Alle hatten Angst, alle wollten endlich wissen, warum Blind Lake unter Quarantäne gestellt worden war und wann diese Quarantäne beendet würde (oder, unaussprechlicher Gedanke, ob sie je beendet würde). Also würde man den Piloten in der Tat ins Verhör nehmen, in ein strenges Verhör vielleicht, und ja, er würde sicherlich Schmerzen leiden, trotz der neuralen Analgetika, mit denen die Ambulanz ausgerüstet war. Das aber entwertete nicht die mutige Tat, die Chris begangen hatte. Es war nicht das erste Mal, dass sie bei ihm diese Zweifel hinsichtlich der Konsequenzen einer guten Tat spürte. Vielleicht war sein Buch über Galliano eine gute Tat gewesen, wenigstens aus seiner Sicht. Ein wieder gutgemachtes Unrecht. Und er war dafür bestraft worden. Gebranntes Kind scheut das Feuer. Es schien allerdings noch mehr dahinter zu stecken.

Marguerite mochte nicht begreifen, wie ein so offensichtlich anständiger Mensch wie Chris Carmody sich seiner so unsicher sein konnte, während ein anerkanntes Arschloch wie Ray im Glanz seiner eigenen verbissenen Selbstgerechtigkeit durch die Gegend stolzierte. Eine Zeile aus einem Gedicht, das sie an der Highschool gelesen hatte, fiel ihr ein: Die Besten sind des Zweifels voll, die Ärgsten / Sind von der Kraft der Leidenschaft erfüllt …

Chris fuhr auf den fast leeren Parkplatz der Ambulanz. Die Sonnenwende lag hinter ihnen, die Tage wurden wieder länger, aber es war immer noch Februar und die wässrige Sonne näherte sich bereits dem Horizont. Auf dem Weg zum Eingang nahm er ihre Hand.

Der Empfang war nicht besetzt, doch als Chris auf die Klingel drückte, erschien kurz darauf eine Krankenschwester. Ich kenne diese Frau, dachte Marguerite. Diese lebhafte, pummelige Frau in der weißen Schwesterntracht war Amanda Bleilers Mutter, ein von der morgendlichen Kinderablieferung an der Schule her vertrautes Gesicht. Wie hieß sie mit Vornamen? Roberta? Rosetta?

»Marguerite.« Die Frau hatte sie erkannt. »Und Sie müssen Chris Carmody sein.« Chris hatte ihr Kommen telefonisch angekündigt.

»Rosalie«, fiel ihr der Name gerade noch rechtzeitig wieder ein. »Wie geht's Amanda?«

»Ganz gut, unter den Umständen.« Die Umstände der Abriegelung waren gemeint. Der Umstand, dass draußen vor dem Begrenzungszaun Leichen unter dem Schnee begraben waren. Rosalie wandte sich Chris zu. »Wenn Sie bei Mr. Sandoval reinschauen wollen, ist das okay, ich habe das mit Dr. Goldhar geklärt, aber erwarten Sie halt nicht zu viel, okay? Und es kann nur ein kurzer Besuch sein. Höchstens ein paar Minuten, ja?«

Unter Rosalies Führung stiegen sie eine Treppe hinauf in den ersten Stock, wo sich zwischen einer Reihe von Büro- und Konferenzräumen drei kleine Zimmer befanden, die mit einer einfachen lebenserhaltenden Apparatur ausgestattet waren.

Vor noch nicht allzu vielen Jahren wäre der Pilot an seinen Verletzungen zweifellos gestorben. Rosalie erläuterte, dass er Verbrennungen dritten Grades an großen Teilen seines Körpers erlitten und genug Rauch und heiße Luft eingeatmet hatte, um seine Lunge ernsthaft zu schädigen. In der Ambulanz hatte man ihm einen kardio-pulmonalen Bypass gelegt und seine Lungenbläschen in Gel eingepackt, um die Heilung zu beschleunigen. Was die Haut betraf …

Nun ja, dachte Marguerite, er sah schrecklich aus, wie er da auf einem weißen Bett in einem weißen Zimmer lag, künstliche, elfenbeinweiße Haut wie feuchte Kleenextücher über sein Gesicht gespannt. Aber das war mehr oder weniger der neueste Stand der Behandlung von Brandverletzungen. In weniger als einem Monat, sagte Rosalie, würde er fast wieder normal aussehen, fast so wie vor dem Absturz.

Die schwerwiegendste Verletzung war ein Schlag gegen den Kopf gewesen, der zwar nicht ganz zum Schädelbruch geführt, aber Hirnblutungen verursacht hatte, die schlecht zu behandeln oder zu beheben waren. »Wir haben alles getan, was wir konnten«, sagte Rosalie. »Dr. Goldhar ist ein wirklich außergewöhnlicher Arzt, wenn man bedenkt, dass wir hier kein voll ausgestattetes Krankenhaus zum Arbeiten haben. Aber die Prognose ist ungewiss. Vielleicht wacht er auf, vielleicht nicht.«

Mr. Sandoval, dachte Marguerite, die versuchte, einen Eindruck von dem Mann unter all den medizinischen Gerätschaften zu gewinnen. Wahrscheinlich kein ganz junger Mann mehr; ein stattlicher Bauch wölbte sich unter der Zudecke. Grau melierte Haare, soweit sie ihm nicht vom Schädel weggebrannt waren.

»Sie haben ihn Mr. Sandoval genannt«, sagte Chris.

»So heißt er. Adam Sandoval.«

»Er war bewusstlos, seit er hier eingeliefert wurde. Woher wissen Sie seinen Namen?«

»Na ja …« Sie schien etwas beunruhigt. »Dr. Goldhar sagte, wir sollten zurückhaltend umgehen mit dieser Information, aber Sie haben ihm das Leben gerettet, nicht wahr? Das war wirklich mutig.«

Die Story war, sehr zu Chris' Leidwesen, bei Blind-Lake-TV gesendet worden. Ein Interview hatte er abgelehnt, dennoch war die Sache seinem Ruf extrem förderlich gewesen — eigentlich doch wohl keine schlechte Sache, hätte Marguerite gedacht. Aber vielleicht fühlte Chris, der Journalist, sich unwohl im Zentrum eines Medienereignisses, so klein es auch sein mochte.

»Welche Information?«, fragte Chris.

»Er hatte eine Brieftasche und Teile eines Rucksacks bei sich. Das meiste ist verbrannt, aber wir konnten genug retten, um seinen Ausweis zu lesen.«

Chris sagte — und Marguerite glaubte eine mühsam beherrschte Anspannung in seiner Stimme hören zu können: »Wäre es möglich, sich die Sachen mal anzusehen?«