»Tja, ich glaube nicht … ich meine, ich sollte wahrscheinlich zuerst mit Dr. Goldhar reden. Werden das nicht letzten Endes alles polizeiliche Beweisstücke sein oder so?«
»Ich werde nichts durcheinanderbringen. Nur einen kurzen Blick.«
»Ich verbürge mich für Chris«, fügte Marguerite hinzu. »Er ist ein anständiger Kerl.«
»Na ja — nur ganz kurz, vielleicht. Ich meine, Sie sind ja keine Terroristen oder so.« Sie sah Chris ernst an. »Bringen Sie mich nur nicht in Teufels Küche, mehr verlang ich gar nicht.«
Chris blieb noch eine Weile bei dem Piloten sitzen. Er flüsterte etwas, das Marguerite nicht verstehen konnte: eine Frage, eine Entschuldigung, ein Gebet?
Dann verließen sie Adam Sandoval, dessen Brustkorb sich in einem seltsam friedlichen Rhythmus, nämlich nach den Vorgaben seines Atemgeräts, hob und senkte, und Rosalie führte sie zu einem kleinen Zimmer am Ende des Korridors. Sie schloss die Tür mit einem Schlüssel auf, der an einem Ring an ihrem Gürtel befestigt war. In dem Raum wurde diverses medizinisches Zubehör gelagert — Kästen mit Nahtmaterial in verschiedenen Stärken, Beutel mit Salzlösung, Binden und Gaze, Antiseptika in braunen Flaschen — und, auf einem ausklappbaren Tisch, eine Plastiktasche, die Sandovals Besitz enthielt. Rosalie öffnete sie vorsichtig und ließ Chris ein Paar Einweg-OP-Handschuhe anlegen, bevor er den Inhalt berühren durfte. »Wegen der Fingerabdrücke oder ich weiß auch nicht.« Offenbar kamen ihr jetzt doch ernsthafte Bedenken.
Chris zog Sandovals verkohlte Brieftasche und die daraus geborgenen Gegenstände hervor: eine Kreditkarte, geschmolzen und unbrauchbar; eine Identifizierungs-Disk mit seinen digitalen Referenzen, auch sie verkohlt, aber mit der noch lesbaren Namensaufschrift Adam W. Sandoval; sein Pilotenschein; das Foto einer Frau mittleren Alters mit einem offenen, sympathischen Lächeln, zu drei Vierteln noch intakt; eine Quittung von der Pottery Barn in Flint Creek, Colorado, und ein bei einem Gartenmöbelmarkt einzulösender Zehndollar-Gutschein, seit sechs Monaten abgelaufen. Falls Mr. Sandoval ein Terrorist war, dachte Marguerite, dann garantiert einer von der häuslichen Sorte.
»Seien Sie bitte vorsichtig«, sagte Rosalie mit brennenden Wangen.
Die Ausbeute aus dem verbrannten Rucksack war sogar noch kümmerlicher. Chris sah sie rasch durch: das Fragment eines Smartbooks, ein geschwärzter Plastikstift und eine Handvoll von losen, nur teilweise erhaltenen Seiten aus einer Zeitschrift.
Chris sagte: »Hat irgendjemand sonst dieses Material gesehen?«
»Nur Dr. Goldhar. Ich dachte, wir sollten vielleicht Ray Scutter oder sonst jemanden aus der Verwaltung verständigen. Aber Dr. Goldhar wollte das nicht. Er meinte, es lohne sich nicht, Ray deswegen in Aufregung zu versetzen.«
»Dr. Goldhar ist ein weiser Mann«, sagte Chris.
Rosalie warf erneut einen prüfenden Blick in den Flur, ihr schlechtes Gewissen schien sich von Minute zu Minute zu verstärken. Chris hatte ihr den Rücken zugewandt. Und so sah sie nicht — wohl aber Marguerite —, dass Chris eine der Zeitschriftenseiten an sich nahm und unter seine Jacke schob.
Sie war sich nicht sicher, ob Chris wusste, dass sie seinen kleinen Diebstahl bemerkt hatte, und sie sprach auch nicht darüber auf der Rückfahrt. Was er da getan hatte, war vermutlich irgendein Vergehen, eine kriminelle Handlung. Machte sie das zur Komplizin?
Er sagte nicht viel im Auto. Aber sie war davon überzeugt, dass er eine journalistische Absicht verfolgte, keine kriminelle. Schließlich war es nur ein angesengtes Stück Papier, was er an sich genommen hatte.
Mehrfach war sie drauf und dran, ihn darauf anzusprechen, doch jedesmal überlegte sie es sich doch wieder anders. Die Sonne war untergegangen, und als sie zu Hause ankamen, war es beinahe Abendessenszeit. Chris hatte versprochen, heute zu kochen. Er war ein begeisterter, wenn auch nicht übermäßig talentierter Koch; seine asiatischen Pfannengerichte waren ein eher zweifelhaftes Vergnügen, und er beklagte, dass die Quarantänerationen weder Zitronengras noch Koriander enthielten, aber …
»Da steht ein Auto in der Auffahrt«, sagte Chris.
Sie erkannte es sofort. Es war in der winterlichen Dämmerung nicht gut zu sehen, ein schwarzer, sich vom dunklen Asphalt und dem Schatten der Weide kaum abzeichnender Umriss, aber sie wusste, dass es Rays Auto war.
Achtzehn
»Bleib im Auto«, sagte sie zu Chris. »Lass mich mit ihm reden.«
»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.«
»Ich habe fünf Jahre mit ihm zusammengelebt. Ich weiß, wie das geht.«
»Marguerite, er hat eine Grenze überschritten. Falls du ihm keinen Schlüssel gegeben hast, ist er in dein Haus eingebrochen.«
»Er muss Tessas Schlüssel benutzt haben. Vielleicht ist sie auch da.«
»Der Punkt ist doch aber: Wenn jemand die Regeln so krass verletzt, dann wird es ernst. Du könntest zu Schaden kommen.«
»Du kennst ihn nicht. Gib mir einfach ein paar Minuten Zeit, okay? Wenn ich dich brauche, schreie ich.«
Nicht lustig, musste sie sich selber sagen. Chris fand es offensichtlich auch nicht lustig. Sie legte ihm eine Hand aufs Knie. »Fünf Minuten, in Ordnung?«
»Du sagst, ich soll im Auto bleiben?«
»Bleib im Auto sitzen oder geh einmal um den Block, was du willst, aber es wird leichter sein, ihn loszuwerden, wenn du nicht da bist und ihn in Rage bringst.«
Sie wartete seine Antwort nicht ab, stieg aus dem Auto und ging entschlossen zur Eingangstür ihres Hauses, eher wütend als ängstlich. Ray, dieser Arsch. Chris begriff nicht, wie Ray funktionierte. Ray war nicht hier, um sie zu verprügeln. Ray benutzte andere Mittel, um Menschen zu demütigen.
Im Haus — die Wohnzimmerlichter waren alle an — rief sie Tessas Namen. Falls Ray Tessa mitgebracht hatte, mochte es eine Rechtfertigung für diese Veranstaltung geben.
Aber Tess antwortete nicht. Ebenso wenig wie Ray. Aufgebracht sah sie in der Küche nach, im Esszimmer. Alles leer. Dann musste er also oben sein. Die Lampen brannten in jedem Zimmer des Hauses.
Sie fand ihn in ihrem Arbeitszimmer. Ray saß auf ihrem Drehsessel, die Füße auf die Schreibtischplatte gelegt, und sah dem Subjekt zu, wie es, von der Mittagssonne beschienen, einen wasserlosen Graben überquerte. Er blickte beiläufig auf, als sie sich räusperte. »Ah«, sagte er. »Da bist du ja.«
Im diffusen Licht des Wandbildschirms sah Ray wie ein kinnloser Napoleon aus, auf alberne Weise gebieterisch. »Ray«, sagte sie fest, »ist Tess im Haus?«
»Ganz bestimmt nicht. Und eben darüber müssen wir reden. Tessa hat mir ein bisschen was erzählt von dem, was hier abgeht.«
»Fang gar nicht erst an. Ich will es nicht hören, absolut nicht. Geh einfach wieder, Ray. Das hier ist nicht dein Haus und du hast kein Recht, hier zu sein.«
»Bevor wir anfangen, über Rechte zu reden, ist dir klar, dass deine Tochter fast eine Stunde lang allein im Schnee zubringen musste, während dein Liebhaber den Helden gespielt hat letzte Woche? Sie kann von Glück reden, dass sie keine Frostbeulen bekommen hat.«
»Wir können ein andermal darüber sprechen. Geh jetzt, Raymond.«
»Komm schon, Marguerite, spar dir den Quatsch von wegen ›mein Haus, meine Rechte‹. Wir wissen beide, dass du Tess systematisch vernachlässigst hast. Wir wissen beide, dass sie als Folge davon ernsthafte psychologische Probleme hat.«
»Ich lass mich nicht auf Diskussionen mit dir ein.«
»Ich bin verdammt noch mal nicht hier, um darüber zu diskutieren. Ich sag dir einfach, was passiert. Ich kann nicht guten Gewissens zulassen, dass meine Tochter weiterhin bei dir wohnt, wenn du nicht gewillt bist, dich vernünftig um sie zu kümmern.«
»Ray, wir haben eine Vereinbarung …«