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Für derlei Gedanken interessierte Mirror Girl sich brennend, aber Tess ignorierte ihre wortlose Anwesenheit. Mirror Girl war jetzt so oft bei ihr, dass sie das zu werden drohte, was Dr. Leinster immer von ihr behauptet hatte: ein Teil von Tessa selbst.

Vielleicht war »Mirror Girl« der falsche Name für sie. Mirror Girl war zwar tatsächlich zuerst in Spiegeln erschienen, aber Tess glaubte, dass das nur deshalb so war, weil Mirror Girl einfach gern Tessas Spiegelbild dort sah, weil es ihr gefiel, zu gucken und den Gucker zurückgucken zu sehen. Spiegelungen, Symmetrie: Das war Mirror Girls Domäne. Dinge, die gespiegelt waren oder gefaltet oder einfach nur sehr kompliziert. Mirror Girl empfand eine Nähe zu solchen Dingen, eine Art Verwandtschaft.

Jetzt blickte Mirror Girl durch Tessas Augen und sah Sterne in der kalten dunklen Nacht außerhalb des Hauses. Tess dachte: Sollten wir wirklich Sternenlicht dazu sagen? War es nicht eigentlich Sonnenlicht? Das Sonnenlicht von anderen Leuten?

Während sie von fern der raunenden Stimme ihres Vaters lauschte, schlief sie ein.

Am nächsten Morgen war ihr Vater eher gedämpfter Stimmung. Nicht, dass er vor dem Morgenkaffee je sehr gesprächig gewesen wäre. Er machte ihr Frühstück, heißen Haferbrei. Es war kein brauner Zucker zum Drüberstreuen da, nur normaler weißer Zucker. Tess wartete ab, ob er selber auch etwas essen würde. Das tat er nicht, wenn er auch zweimal alle Küchenschränke durchstöberte, als sei er auf der Suche nach etwas, das ihm abhanden gekommen war.

Er setzte sie sehr früh an der Schule ab. Die Türen waren noch nicht geöffnet, und die Morgenluft war eiskalt. Tess entdeckte Edie Jerundt, die sich beim Tetherball-Pfosten herumtrieb. Edie Jerundt begrüßte sie gleichgültig und sagte: »Ich hab zwei Pullover unter meiner Winterjacke an.«

Tess nickte höflich, obwohl es ihr schnurzegal war, wie viele Pullover Edie Jerundt zufällig anhatte. Edie sah aus, als würde sie frieren, trotz all ihrer Pullover. Sie hatte eine rote Nase und glänzende Augen vom schneidenden Wind.

Ein paar ältere Jungen kamen vorbei und machten Bemerkungen über »Edie Grunt und Tess the Mess«. Tess ignorierte sie, aber Edie war ungeschickt genug, sie wie ein Fisch mit offenem Mund anzuglotzen, worauf die Jungen beim Weitergehen in Gelächter ausbrachen. Mirror Girl verfolgte dieses Verhalten mit äußerster Neugier — sie konnte keine Personen unterscheiden und begriff nicht, warum jemand sich über Tess oder Edie lustig machen sollte —, aber Tess konnte es ihr nicht erklären. Die Grausamkeit von Jungen war eine Tatsache, die man hinzunehmen und zu überspielen, nicht aber zu analysieren hatte. Tess war sich sicher, dass sie sich an deren Stelle nicht so verhalten hätte, obwohl sie manchmal durchaus in Versuchung geriet, sich anzuschließen, wenn die anderen Mädchen sich über Edie lustig machten, und sei es nur, um gar nicht erst selber in die Schusslinie zu geraten. (Sie gab sich dieser Versuchung nur selten hin und schämte sich anschließend sehr.)

»Hast du den Film gestern Abend gesehen?«, fragte Edie. Eine von den Sachen, die die Abriegelung so seltsam machten, war die, dass es nur noch einen Videokanal gab und alle Leute sich dieselben Sendungen angucken mussten.

»Zum Teil«, gestand Tess.

»Ich fand ihn richtig gut. Irgendwann möchte ich mir die Lieder mal downloaden.« Edie hielt die Hände zur Seite und wackelte mit dem Körper auf eine Art, die wohl einen indischen Tanz darstellen sollte. Tess hörte, wie die Jungen sich aus der Entfernung lustig machten.

»Ich wünschte, ich hätte Fußreifen«, vertraute Edie ihr an.

Tess glaubte, dass Edie Jerundt mit Fußreifen aussehen würde wie ein Frosch im Hochzeitskleid, aber das war ein gemeiner Gedanke und so behielt sie ihn für sich.

Mirror Girl belästigte sie schon wieder. Mirror Girl wollte, dass sie zu den weit entfernten Kühltürmen von Eyeball Alley hinsah.

Aber was war denn daran so interessant?

»Tess?«, sagte Edie. »Hörst du mir überhaupt zu?«

»'tschuldige«, sagte Tess automatisch.

»Gott, du bist vielleicht eine komische Type«, sagte Edie.

Den ganzen Morgen über wurde Tessas Aufmerksamkeit immer wieder von den Kühltürmen angezogen. Sie konnte sie vom Klassenzimmerfenster aus sehen, hinter den verschneiten leeren Feldern. Krähen wirbelten durch den Himmel. Sie lebten sogar im Winter hier. In letzter Zeit hatten sie sich stark vermehrt, so kam es Tess jedenfalls vor, vielleicht, weil sie sich auf der Müllkippe westlich der Stadt mästen konnten. Aber sie saßen nicht auf den hohen, spitz zulaufenden Kühltürmen. Die Kühltürme waren dazu da, überschüssige Wärme aus dem darunter befindlichen Auge abzuleiten. Teile des Auges mussten sehr kalt gehalten werden, fast so kalt, wie es überhaupt möglich war, »nahe des absoluten Nullpunkts«, wie Mr. Fleischer es mal genannt hatte. Tess wendete diese Formulierung in Gedanken hin und her. Absoluter Nullpunkt. Das ließ sie an eine bitterkalte, windstille Nacht denken. Eine Nacht, die so eisig war, dass die Stiefel im Schnee quietschten. Beim absoluten Nullpunkt konnte man die Sterne besser sehen.

Mirror Girl fand diese Gedanken hochinteressant.

Mr. Fleischer rief sie einige Male auf. Tess war in der Lage, seine Fragen zur Naturwissenschaft zu beantworten (es war Isaac Newton gewesen, der die Bewegungsgesetze entdeckt hatte), doch später dann, in der Englischstunde, bekam sie die gestellte Frage gar nicht mit, hörte nur, wie Mr. Fleischer ihren Namen nannte — »Wer weiß es? Tessa?«

Sie waren dabei, David Copperfield durchzunehmen. Tess hatte das Buch in der vergangenen Woche zu Ende gelesen. Sie versuchte sich vorzustellen, was Mr. Fleischer gefragt haben könnte, aber sie hatte gerade eine totale Mattscheibe. Sie starrte auf ihre Tischplatte und hoffte, er würde jemand anders drannehmen. Die Sekunden verrannen in quälender Verlegenheit und sie spürte das ganze Gewicht von Mr. Fleischers Enttäuschung. Sie wickelte sich eine Haarsträhne um den Zeigefinger.

Ärgerlicherweise wedelte Edie Jerundts Hand die ganze Zeit in der Luft herum.

»Edie?«, sagte Mr. Fleischer schließlich.

»Die industrielle Revolution«, sagte Edie triumphierend.

»Richtig, man spricht von der Industriellen Revolution …«

Tess wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Fenster zu.

Am Ende des Vormittags teilte sie Mr. Fleischer mit, dass sie zum Mittagessen nach Hause gehe. Er wirkte überrascht. »Das ist aber ein ganz schön weiter Weg, nicht wahr, Tess?«

Ja, aber sie hatte gehofft, dass Mr. Fleischer das nicht wüsste. »Mein Vater holt mich ab.« Eine glatte, kaltschnäuzige Lüge. Sie wunderte sich, wie leicht sie ihr von den Lippen kam.

»Besonderer Anlass?«

Tess zuckte die Achseln.

Als sie draußen war, in ihre Winterjacke eingemummelt (aber anders als Edie nur mit einem Pullover), wurde ihr klar, dass sie nicht nach Hause gehen und auch nicht zum Nachmittagsunterricht wieder in der Schule sein würde. Mirror Girl hatte sie hierhergebracht und Mirror Girl hatte für den Nachmittag eigene Pläne.

Seit dem Ende der Sandsturmkrise funktionierte das Auge einwandfrei und ohne die kleinsten Aussetzer.

Es war fast ein bisschen entnervend, dachte Charlie Grogan. Als er am Morgen seine Runde durch den Kontrollraum gemacht hatte, waren alle sehr entspannt gewesen — so entspannt man seit Beginn der Abriegelung halt sein konnte. Die Leute hatten sage und schreibe sogar gelächelt. Strom und Spannung lagen voll im grünen Bereich, die Temperatur war stabil, alle Daten blitzsauber, und selbst die Landschaft, durch die das Subjekt weiterhin wanderte, schien sonnig und mehr oder weniger freundlich. Charlie, der sich ein bisschen überflüssig vorkam, beobachtete eine Zeit lang den Monitor in seinem Büro. Subjekt sah ziemlich mitgenommen aus. Seine Deckhaut war stumpf und von Furchen durchzogen, sein gelber Hahnenkamm hing schlaff wie eine zerfetzte Fahne herab, aber es ging mit festem Schritt und deutlicher Entschlossenheit durch die weglose Wildnis. Das Land war flach und kahl, nur am Horizont waren Unregelmäßigkeiten zu erkennen, Berggipfel, Schimmern von Schnee in großer Höhe.