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Charlie eilte zurück in sein Büro. Irgendetwas Schwerwiegendes war mit den O/BEKs im Gange, und er wollte nach unten, um die Sache unter die Lupe zu nehmen. Aber eins nach dem anderen. Erst einmal Ray, wenn möglich, nach draußen komplimentieren, oder ihn mit Tabby verbinden, falls er damit ein Problem hatte.

Aber das Büro war leer.

Ray war weg. Ebenfalls weg war, wie Charlie sofort bemerkte, seine Ausweiskarte, die ihm überall Zugang verschaffte: einfach vom Revers seiner Jacke gepflückt, die er an den Haken neben der Tür gehängt hatte.

»Scheiße«, sagte Charlie.

Er rief noch einmal Tabby Menkowitz an, doch diesmal konnte er sie nicht erreichen. Irgendwas stimmte nicht mit seinem Pocket-Server. Er klingelte einmal, dann wurde der Bildschirm blau. Er hantierte noch immer mit dem Gerät, als plötzlich der Boden unter seinen Füßen zu vibrieren begann.

Siebenundzwanzig

Unter dem Gezwitscher seines Pocket-Servers, den er auf den Nachttisch gelegt hatte und der dort leuchtete wie ein phosphoreszierender Bleistift, stieg Chris aus schwarzem und traumlosem Schlaf auf. Er konsultierte die Uhr im Display, bevor er auf den Annahmeknopf drückte. Es war vier Uhr morgens. Er hatte gerade mal eine Stunde richtig geschlafen. Der Sturm nagte noch immer an der Hülle des Hauses.

Es war Elaine Coster, die ihn anrief. Sie sei in der Ambulanz, teilte sie mit, zusammen mit Sebastian Vogel und Sue Sampel. Sue habe Stichverletzungen erlitten, die ihr Ray Scutter zugefügt hatte. »Vielleicht solltet ihr herkommen, falls ihr es schafft bei diesem Wetter. Ich meine, es ist nicht hundertprozentig dringend; Sue wird's überleben — sie hat übrigens sogar nach euch gefragt —, aber ich habe irgendwie das Gefühl, dass es vielleicht ganz klug wäre, wenn unser Haufen für eine Weile zusammenbliebe.«

Chris sah, wie Marguerite sich unruhig unter den Decken wälzte. »Wir kommen so schnell wir können.«

Er weckte sie und erzählte ihr, was passiert war.

Marguerite überließ es Chris, das Auto durch den Schnee zu navigieren. Sie saß auf dem Rücksitz neben Tess, die sich nur unwillig wach hielt und noch nicht wusste, was ihr Vater getan hatte. Marguerite hatte die Absicht, es auch dabei zu belassen, jedenfalls vorläufig. Die Belastungen für Tess waren auch so schon groß genug.

Für die Dauer der Fahrt, während Tessas Kopf in ihrem Schoß lag, der Schnee sich an den Wagenfenstern festsetzte und ganz Blind Lake in eine eisige Dunkelheit eingewickelt schien, dachte Marguerite über Ray nach.

Sie hatte ihn falsch eingeschätzt. Sie hätte nie geglaubt, dass Ray sich zu Gewalttaten würde hinreißen lassen. Selbst jetzt noch konnte sie es sich kaum vorstellen: Ray mit einem Messer. Es war ein Messer gewesen, hatte Chris gesagt. Ray hat ein Messer, und er benutzt es, sticht mit dem Messer in Sue Sampels Körper.

»Weißt du«, sagte sie zu Chris. »Ich bin nur einmal in meinem Leben ohnmächtig geworden. Und zwar wegen einer Schlange.«

Chris kämpfte mit dem Lenkrad, als sie um die Ecke in Richtung Einkaufszentrum bogen. Der Wagen geriet ins Schleudern, die Mikroprozessoren gaben blinkende Warnhinweise auf den Verlust der Bodenhaftung, dann fassten die Reifen wieder. Chris hatte Zeit, ihr einen neugierigen Blick zuzuwerfen.

»Ich war sieben Jahre alt«, sagte Marguerite. »Eines Morgens im Sommer ging ich aus dem Haus, und da lag eine Schlange zusammengerollt auf der Verandatreppe, nahm ein Sonnenbad. Eine große Schlange, und sie glänzte richtig auf der alten Holzstufe. Zu groß und zu glänzend, um echt zu sein. Ich glaubte, es sei eine nachgemachte, eine Spielzeugschlange, die irgendein Nachbarskind da hingelegt hatte, um mir einen Streich zu spielen. Also bin ich über sie rübergesprungen. Dreimal. Hin und zurück. Für den Fall, dass jemand zuguckte, nur um zu beweisen, dass man mich nicht reinlegen konnte. Die Schlange rührte sich nicht, und ich ging weiter in die Bücherei, ohne weiter darüber nachzudenken. Aber als ich nach Hause kam, erzählte mir mein Vater, er hätte morgens eine Klapperschlange getötet. Sie sei auf die Veranda gekommen und er habe eine Schaufel benutzt, um sie in zwei Teile zu hacken. Die Schlange sei lethargisch gewesen in der kühlen Luft, sagte er, aber er habe vorsichtig sein müssen. So eine Schlange könne schneller zustoßen als ein Blitz und verspritze genug Gift, um ein Pferd zu töten.« Sie sah Chris an. »Das war der Moment, wo ich ohnmächtig wurde.«

Zwanzig Minuten später erreichten sie die Ambulanz. Chris parkte das Auto unter einem schützenden Betonüberhang, mit der Beifahrerseite halb auf dem Gehsteig. Elaine Coster kam ihnen im Vorraum entgegen. Auch Sebastian Vogel war da, saß zusammengesunken auf einem Stuhl, den Kopf in die Hände gestützt.

Elaine fasste Marguerite ins Auge. »Sue möchte mit Ihnen sprechen.«

»Mit mir?«

»Die Wunde ist mehr oder weniger nur oberflächlich. Man hat sie genäht und ihr ein Schmerzmittel gegeben. Die Schwester meint, sie müsste eigentlich schlafen, aber vor ein paar Minuten war sie hellwach, und als ich erwähnte, dass ihr auch kommen wolltet, sagte sie: ›Ich möchte mit Marguerite sprechen.‹«

O Gott, dachte Marguerite. »Na ja, wenn sie immer noch wach ist …«

»Ich zeig Ihnen den Weg.«

Chris versprach, sich um Tess zu kümmern, die ein schläfriges Interesse an den Wartezimmerspielsachen zu fassen begann.

»Kommen Sie rein, meine Liebe«, sagte Sue. »Ich bin zu schwach, um zu beißen.«

Marguerite betrat das Krankenzimmer. Es befand sich im selben Flur wie das, in dem Adam Sandoval ohne Bewusstsein lag — der Mann, der in einem beschädigten Flugzeug auf Blind Lake gestürzt war. Sue lag definitiv nicht im Koma, aber sie wirkte bestürzend schwach. Sie war in eine halb liegende, halb sitzende Haltung gebettet, in ihrer Ellenbeuge steckte eine Infusionsnadel. Ihr Gesicht war blass, und sie wirkte viel älter, als sie war — Anfang bis Mitte vierzig. Aber sie brachte ein Lächeln zustande.

»Ehrlich«, sagte sie, »es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Ich hab einiges an Blut verloren, aber das Messer hat nichts Wichtigeres beschädigt als das, was Dr. Goldhar als ›adipöses Gewebe‹ bezeichnet. Fett, mit anderen Worten. Anscheinend haben mich all die Nachtische gerettet, die ich in meinem Leben gegessen habe. Wie der Typ im Film, der von einer Kugel ins Herz getroffen worden wäre, wenn er nicht seine Bibel in der Brusttasche gehabt hätte. Da steht ein Stuhl neben dem Bett, Marguerite. Wollen Sie sich nicht setzen? Ich werde müde, wenn ich Sie da stehen sehe.«

Gehorsam setzte sich Marguerite. »Sie müssen große Schmerzen haben.«

»Jetzt nicht mehr. Die haben mich mit Morphium oder so was Ähnlichem vollgepumpt. Die Schwester sagt, dass man normalerweise davon müde wird, aber ich zeige eine ›idiosynkratische Reaktion‹. Ich glaube, das bedeutet, dass ich sitzen und reden will. Was meinen Sie, ist das so ein Gefühl, wie es Drogenabhängige haben? An einem guten Tag?«

»Zuerst vielleicht.«

»Das heißt, es hält nicht an. Sicherlich haben Sie recht, es ist ein bisschen so ein Kartenhausgefühl, als könne es nicht ewig so weitergehen, Euphorie mit Verfallsdatum. Na, ich will's genießen, solange es dauert.«

Es könnte jederzeit zu Ende gehen, dachte Marguerite. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid mir das tut.«

»Danke, aber es braucht Ihnen nicht leidzutun. Ehrlich, ich find's toll, dass ihr alle bei diesem scheußlichen Wetter hergekommen seid.«

»Als ich hörte, dass Ray … dass er es war, der Sie verletzt hat …«

»Ja, was war da?«

»Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.«

»Ich habe befürchtet, dass Sie das sagen würden. Deswegen wollte ich ja mit Ihnen sprechen.« Sie runzelte die Stirn. Dadurch wirkte ihr Gesicht noch eingefallener. »Ich kenne Sie nicht sehr gut, Marguerite, aber wir kommen ganz gut miteinander aus, nicht wahr?«