»Aber?«, fragte Elaine nach.
»Aber — wie gesagt — plötzlich frage ich mich — genauer gesagt, manchmal wache ich morgens auf und glaube es. Glaube es von ganzem Herzen, glaube es auf gleiche Weise, wie ich an meine Existenz glaube.«
»Was glauben Sie? Dass Sie ein Prophet sind?«
»Schwerlich. Nein, ich habe beim Aufwachen das feste Gefühl, dass ich über eine Wahrheit gestolpert bin. Versehentlich. Eine grundlegende Wahrheit.«
»Welche Wahrheit, Sebastian?«
»Dass es etwas gibt, das im physischen Prozess des Universums lebt. Das es zwar nicht unbedingt erschafft. Aber vielleicht verändert. Hauptsächlich aber darin lebt. Die Vergangenheit auffrisst und die Zukunft ausscheidet.«
Tess warf ihm einen neugierigen Blick zu, dann rollte sie ihr Auto ein Stückchen weiter weg.
»Wissen Sie«, sagte Elaine, »das wäre ein sicheres Zeichen für Unzurechnungsfähigkeit. Wenn man anfängt, tatsächlich auf die Stimmen in seinem Kopf zu hören.«
»Sicher. Vielleicht bin ich ja verrückt, Elaine, aber ich bin nicht dumm. Ich kann Wahnvorstellungen diagnostizieren. Also frage ich mich, ob Ray Scutter eventuell recht haben könnte, ob Blind Lake tatsächlich mit einer ansteckenden Form von Wahnsinn infiziert wurde. Das würde vieles erklären, nicht wahr? Zum Beispiel, warum wir unter Quarantäne gestellt wurden. Es würde auch Rays eigenes Verhalten zum Teil erklären. Es könnte vielleicht sogar erklären, warum Sue in einem Krankenzimmer liegt, mit einer Stichwunde im Bauch.«
Und es könnte Mirror Girl erklären, dachte Chris.
In Sorge, sie könne die Bemerkung über ihren Vater mitgehört haben, drehte er sich nach Tess um, aber Tess hatte ihr Holzauto neben der Schwingtür mit der Aufschrift ZUTRITT NUR FÜR KRANKENHAUSPERSONAL liegen lassen und war im Flur verschwunden.
Er sprang auf und rief ihren Namen. Keine Antwort.
Tess war auf der Suche nach ihrer Mutter, als sie die Zimmertür des schlafenden Mannes öffnete.
Zuerst dachte sie, dass das Zimmer leer sei. Es war nur schwach beleuchtet, dennoch konnte sie von der Tür aus das Bett erkennen, das Fenster, einen stumm blinkenden Überwachungsmonitor und den skelettartigen Umriss eines Infusionsständers. Sie wollte sich gerade zurückziehen, da sagte der Schlafende: »Hallo, du da. Geh nicht weg.«
Sie zögerte.
Der Schlafende lag regungslos in seinem Bett, doch offenbar schlief er gar nicht. Er klang freundlich. Aber man konnte nie wissen.
»Brauchst keine Angst zu haben«, sagte der Mann. Das »du« ließ er einfach weg, bemerkte Tess. Irgendwie ließ ihn das weniger Furcht erregend erscheinen.
Vorsichtig trat sie einen Schritt näher und sagte: »Sie sind der Mann aus dem Flugzeug.«
»Genau. Das Flugzeug. Ich heiße Adam. Wie in dem Palindrom. ›Madam, I'm Adam‹.« Seine Stimme war die eines alten Mannes, rau und langsam, aber sie klang auch müde. »Seit fünfzehn Jahren hab ich meinen Pilotenschein«, sagte er. »Aber ich bin eigentlich nur ein Wochenendflieger. Ich habe ein Haushaltswarengeschäft in Loveland, Colorado. Adam Sandoval. Der Mann aus dem Flugzeug. Das bin ich. Wie heißt du?«
»Tessa.«
»Und das hier muss Blind Lake sein.«
»Ja.«
»Klingt, als wäre es kalt draußen.«
»Es schneit. Sie können den Schnee gegen das Fenster fallen hören.«
»Schlechte Sicht«, sinnierte Adam Sandoval, als würde er über eine imaginäre Landebahn rollen.
»Sind Sie schwer verletzt?«, fragte Tess. Er hatte sich immer noch nicht bewegt.
»Na ja, ich weiß nicht recht. Ich hab keine Schmerzen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich wirklich wach bin. Bist du ein Traum, Tessa?«
»Ich glaube nicht.« Sie dachte daran, was der Mann getan hatte. Er war buchstäblich aus dem Himmel gefallen. Wie Dorothy. Er war auf einem Wirbelsturm nach Blind Lake gekommen. »Wie ist es draußen?«
»Es schneit, wie du sagst. Und es scheint dunkel zu sein.«
»Nein, ich meine, außerhalb von Blind Lake.«
Der Mann stockte. Es war, als würde er in einer Kiste voller Erinnerungen kramen, einer Kiste, die so lange verschlossen gewesen war, dass er gar nicht mehr wusste, was er dort aufbewahrt hatte.
»Es war schwer an dem Tag, überhaupt in die Luft zu kommen«, sagte er schließlich. »Die Nationalgarde hat die Flughäfen überwacht, sogar die kleinen Provinzflugplätze. Alle machten sich Sorgen wegen der Seesterne.« Wieder machte er eine Pause. »Der Seestern in Crossbank hat meine Frau geholt. Oder sie hat ihn geholt, vielleicht ist das ein besserer Ausdruck für die gleiche Sache.«
Tess hatte nicht die geringste Ahnung, was das alles heißen sollte, aber sie ließ ihn reden. Es wäre unhöflich gewesen, ihn zu unterbrechen. Sie hoffte, dass wenigstens einige seiner Sätze früher oder später einen Sinn ergeben würden.
»Bei Karen, das ist meine Frau, wurde vor sechs Jahren Gebärmutterhalskrebs festgestellt. Man konnte ihn nicht behandeln, weil ihr Immunsystem irgendeine seltene Marotte hatte. Von der Behandlung wäre sie genauso schnell gestorben wie von der Krankheit. Also hat sie sich einer Operation unterzogen und musste alle vier Stunden Tabletten nehmen, um Metastasen zu verhindern, und so hätte sie noch zwanzig Jahre weiterleben können, kein Problem, was macht es denn, wenn man von Zeit zu Zeit ein paar Kapseln von diesem und jenem schlucken muss? Aber Karen meinte, die Tabletten würden sie krank machen — und ich muss zugeben, sie ist tatsächlich die ganze Zeit aufs Klo gelaufen, weshalb es ihr einigermaßen schwerfiel, überhaupt das Haus zu verlassen — und nach der Operation fühlte sie sich müde und alt, wahrscheinlich hatte sie obendrein auch noch Depressionen, obwohl ich eher den Eindruck hatte, dass sie nicht krank war, sondern traurig, die ganze Zeit immerzu traurig.«
»Das tut mir leid«, sagte Tess.
»Sie hat viel Video geguckt, wenn sie allein zu Hause war. Und als dann in Crossbank dieser Seestern auftauchte, hat sie es gleich gesehen auf dem Bildschirm. Ich musste ihr auch alle Nachrichtenmagazine ausdrucken.«
»Ich war in Crossbank«, erklärte Tess. »Voriges Jahr. Ich kann mich aber an keinen Seestern erinnern.«
»Ja, aber das war vorher. Und selbst zu der betreffenden Zeit gab es nicht viele Bilder. Zuerst hat man versucht, es aus den Medien rauszuhalten, aber es gab ein Amateurvideo, das im Umlauf war, und dann tauchte noch eins in Georgia auf, und plötzlich wusste die ganze Welt, was los war, obwohl natürlich niemand wusste, was genau eigentlich los war. Im Kongress gab es eine starke Gruppe, die die Seesterne ohne Umschweife mit Atomraketen beschießen wollten. Karen war entsetzt darüber. Steh mir bei, aber sie fand sie schön.«
»Schön?«
»Die Seesterne. Vor allem den von Crossbank. Allein der Umfang, irgendwie das Größte und Vollkommenste, was man je gesehen hat, und all die Rippen und Bögen aus welchem Material auch immer, Perlmutt oder so was, mit eingearbeiteten Regenbögen. Man wusste, dass man es mit etwas Besonderem zu tun hatte; manche glaubten, es sei etwas Heiliges, während die anderen eher vermuteten, es wären der Teufel und die vier Reiter der Apokalypse zusammengenommen. Wenn man Depressionen hat, kann einem so etwas vielleicht wirklich wie der Weg zum Heil vorkommen. Aber wenn man nichts anderes möchte, als an seinem Leben festzuhalten und es wieder auf Normalkurs zu bringen, dann ist es nur eine weitere Bedrohung und Ablenkung.«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
»Wahrscheinlich muss man es von Anfang an gesehen haben. Vor allem den großen Seestern, der in Crossbank wuchs, dort wo vorher dieses seltsame Teleskop war. Karen wurde immer aufgeregter, je mehr sie davon in den Nachrichten sah, die Soldaten überall, die gesperrten Straßen, und dann die ausländischen Staaten, die wissen wollten, was für ein Teufelzeug wir da ausgebrütet hätten und ob es gefährlich sei, und natürlich konnte niemand diese Fragen beantworten. Weißt du, was mich bei Karen gewundert hat? Die Energie, die sie plötzlich hatte — dieselbe Frau, die sechs Monate lang kaum einmal vom Sofa aufgestanden war. Sie war ziemlich mollig und schwerfällig geworden, trotz der Tabletten und obwohl sie immer aufs Klo musste, aber jetzt wurde sie in null Komma nichts wieder munter. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie nicht vielleicht ihre Medizin einfach abgesetzt hat. Sie schien zu glauben, dass es nicht mehr darauf ankäme, ob sie am Leben blieb oder nicht: Was mit ihr geschah, das war belanglos. Sie hat über diese Dinge nicht gesprochen, verstehst du, aber es hat sie offensichtlich verdammt interessiert, als die Regierung zugeben musste, dass man einige Menschen und einen Haufen von Robotern im Innern des Seesterns von Crossbank verloren hätte. Man konnte in dem Ding herumlaufen oder eine Kamera mit Fernbedienung reinschicken, aber die Kameras hörten sofort auf zu funktionieren und die Leute, die zu weit hineingegangen waren, kamen nie zurück.«