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Etwas ungeheuer Fremdartiges. Etwas Künstliches. Vielleicht war es sogar das, was Subjekt die ganze Zeit suchte, das Ziel seiner Reise.

Es lag auf der Hand, warum dieses Gebilde bei der Überblickserkundung nicht erfasst worden war. Es war groß, aber nicht über alle Maßen groß, und seine Bögen und Säulen waren vom Staub der Jahre, wenn nicht Jahrhunderte, bedeckt. Wie eine Fata Morgana flimmerte es im Licht der Sonne.

Das Subjekt trat in den Schatten dieses Gebildes, mit so schnellen Schritten wie seit vielen Tagen nicht mehr. Marguerite bildete sich ein, sie könne seine großen schräg ausgestellten Füße über den steinigen Wüstenboden schlurfen hören.

Aber was stellte dieses Ding dar, groß wie eine Kathedrale, so offenkundig alt und so offenkundig vernachlässigt? Was hatte das Subjekt veranlasst, so weit zu reisen, um es zu finden?

Bitte, dachte sie, nicht noch ein weiteres Rätsel, nicht noch eine weitere unergründliche Handlung …

Das Subjekt durchschritt die ersten großen Gewölbebogen, der Schatten zeichnete die Konturen weich.

»Was willst du bloß hier?«, sagte Marguerite laut.

Subjekt drehte sich um und sah sie an. Seine Augen waren riesig, feierlich ernst und perlweiß.

Ein dünner trockener Wind zerzauste die losen Strähnen von Marguerites Haar. Sie sank staunend auf die Knie, griff nach dem Konferenztisch, versuchte sich festzuhalten. Aber es war nur feiner Sand, was sie zu fassen bekam, der Staub der Ewigkeit, der ausgetrocknete Boden von UMa47/E.

Achtundzwanzig

Als sich der Boden unter seinen Füßen bewegte und die Sirenen die Evakuierung des Auges verkündeten, war Ray bestürzt, aber nicht überrascht. Diese Entwicklung war unvermeidlich. Da war etwas zum Leben erwacht, und diesem Etwas gefiel das nicht, was Ray zu tun beabsichtigte.

Er jedoch war auf diese Konfrontation vorbereitet. Das wurde ihm zusehends deutlich. Ray war kein großer Anhänger von Schicksalslehren aller Art, doch in diesem Fall musste man ihnen eine nicht unbeträchtliche Erklärungskraft zubilligen. Alle möglichen Erfahrungen seines Lebens, die zunächst rätselhaft schienen — die Jahre der akademischen Grabenkämpfe, seine tiefe Skepsis hinsichtlich der Funktionsweise des Auges, seine so viele Jahre zurückliegende Einführung in die Riten des Todes —, offenbarten jetzt ihren Sinn. Sogar seine alberne Ehe mit Marguerite, ihre trübsinnige Starrköpfigkeit, ihr Unwille, ihm auch nur einmal entgegenzukommen in Dingen, die ihm wichtig waren. Ihre sentimentalen Vorstellungen über die Eingeborenen von UMa47/E. Dies waren die Steine, an denen Ray sich gewetzt hatte wie eine Klinge.

Das Wort »Klinge« rief eine unangenehme Erinnerung an die Vorfalle vor Sue Sampels Haus wach. Das war ein reiner Reflex gewesen, er hatte überhaupt nicht die Absieht gehabt, ihr körperlichen Schaden zuzufügen. Sie hatte ihn wütend gemacht mit ihrem unverschämten, kreischenden Gelächter, also hatte er sie gestoßen, und dann war das Messer in ihrer Hand aufgetaucht, er war gezwungen gewesen, es ihr zu entwinden, und dann, nach einem gedankenlosen Augenblick, war plötzlich Blut da gewesen. Gott, er konnte Blut nicht ausstehen, doch selbst diese schreckliche Begegnung, dachte Ray, erwies sich jetzt gewissermaßen als Initiationserfahrung. Sie zeigte, dass er fähig war, eine kühne, gegen alle Regeln verstoßende Tat zu begehen.

Er war mit dem Bauplan der Alley so weit vertraut, dass er die zentrale Aufzugbatterie ausfindig machen konnte. Zwei der Fahrstühle standen leer, die Türen gingen auf und zu wie krampfhaft zuckende Augenlider.

Die Erschütterung, die den Boden in Bewegung gebracht hatte, war abgeklungen. Ein Erdbeben in diesem Teil des Landes war zwar unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Ray bezweifelte jedoch, dass die Erschütterung von einem Erdbeben ausgelöst worden war. Irgendetwas ging dort unten vor, in den Tiefen des Auges.

Die Nachtschicht hatte den Notfall einer Evakuierung offenbar gründlich geübt. Das Personal strömte jeweils in Zweiergruppen aus den Fahrstühlen, beunruhigt zwar, aber grundsätzlich gefasst, wahrscheinlich, weil sie sich sagten, dass das Beben aufgehört habe und die Evakuierung nur eine Formalität sei. Eine Frau mit durchdringendem Blick bemerkte Ray, der neben den Fahrstühlen stand, kam auf ihn zu und sagte: »Wir sollen auf direktem Weg zum Ausgang gehen, nicht nach unten ins Werk. Und auf keinen Fall sollen wir die Aufzüge benutzen.«

Scheißflurüberwachung, dachte Ray. Er zückte den gestohlenen Generalausweis und sagte: »Verlassen Sie einfach das Gebäude so schnell wie möglich.«

»Aber uns wurde gesagt …«

»Falls Sie Wert darauf legen, Ihren Job zu behalten, gehen Sie jetzt. Anderenfalls geben Sie mir Ihren Namen und Ihre Dienstnummer.«

Der Stimme der Autorität. Die Frau zuckte zusammen und entfernte sich beleidigten Blickes. Ray trat in den nächsten Fahrstuhl und drückte auf den Knopf fürs fünfte Untergeschoss, von wo aus die O/BEK-Galerie am besten zu erreichen war. Er ging davon aus, dass er einen gewissen Zeitrahmen zur Verfügung hatte, in dem er ungestört tätig werden konnte. Sobald das zivile Personal das Gebäude verlassen hatte, würde Schulgin eine Aufklärungsmannschaft hineinschicken, aber durch den Sturm würde dieser Ablauf extrem verlangsamt werden.

Das Sirenengeheul vibrierte in den Fahrstuhlschächten. Er befand sich vier Stockwerke unterhalb der Prärie von Minnesota, als das Geheul erstarb, der Fahrstuhl zum Stillstand kam und die Lichter ausgingen.

Stromausfall. In wenigen Sekunden würden die Notstromaggregate ihre Arbeit aufnehmen.

Aber davon abgesehen, dachte Ray, müsste es nicht wenigstens eine Notbeleuchtung geben?

Offenbar nicht. Die Dunkelheit war vollkommen.

Er zog seinen Server aus der Tasche, doch selbst dieses Gerät hatte aufgehört zu leuchten. Es war, als ob er blind wäre.

Für dunkle, abgeschlossene Räume hatte Ray noch nie etwas übrig gehabt. Er streckte die Hände aus, um sich zu orientieren. Er zog sich in eine Ecke des Fahrstuhls zurück, spürte die angrenzenden Wände zur Linken und Rechten. Die polierte Aluminiumoberfläche war kalt, glatt und unnachgiebig.

Das wird nicht lange dauern, sagte er sich. Und falls der Stromausfall sich doch hinzöge, wäre das vor allem schlecht für die O/BEKs. Die Pumpen würden ausfallen, das flüssige Helium würde nicht mehr fließen, die Temperatur in den Zylindern über die kritische Marke steigen. Doch eine andere Stimme in seinem Innern hielt dagegen: Das Scheißding hat dich jetzt in seinen Klauen.

Bleib ruhig, sagte er sich. Er war voller Gewissheit und mit einem Gefühl für die eigene Macht im Auge eingetroffen: Es waren unwiderrufliche Schritte gewesen, die ihn hergeführt hatten, angetrieben von seiner Überzeugung, dass die O/BEKs Ursache all dessen seien, was in Blind Lake schiefgelaufen war, aber das Gebäude hatte ihn seines Schwunges beraubt. Er war in einer Kiste eingesperrt, und sein Selbstvertrauen begann in der Dunkelheit zu versickern.

Ich bin nicht um meinetwillen hier, dachte Ray, das galt es im Blick zu behalten. Er war hier, weil die leichtgläubigen Kinder, die man seiner Verantwortung unterstellt hatte, mit einem gefährlichen Apparat spielten, und er hatte die Absicht, dem ein Ende zu setzen, ob es ihnen gefiel oder nicht. Es war dies recht eigentlich eine selbstlose Handlung. Mehr noch: eine Handlung mit Erlösungscharakter. Ray hatte einen Fehler begangen vor Sue Sampels Haus, er war durchaus bereit, das einzugestehen. Er hielt sich einiges auf seine Bereitschaft zugute, Probleme realistisch zu analysieren. Vielleicht hatten sich alle anderen von Habgier, Realitätsverleugnung oder Furcht blenden lassen, aber er nicht. Die Vorrichtung in diesem Gebäude war zu einer Bedrohung geworden, und dieser würde er sich stellen. Mit dem, was zu tun er sich anschickte, gehorchte er einem so grundlegenden moralischen Imperativ, dass damit alle Fehler, die er im Verlauf dieser Handlung begehen mochte, automatisch getilgt waren.