»Sie sind bestimmt noch unten in der Caldera«, meinte Jamie.
»Es ist Nacht«, erklärte Stacy geradezu anklagend.
Jamie nickte und ging weiter hin und her.
»Das Warten ist das Schlimmste«, meldete sich Vijay zu Wort. »Nicht zu wissen, was …«
»Hier ist Rodriguez«, kam es knisternd aus dem Lautsprecher des Funkgeräts. »Wir haben hier ein kleines Problem.«
Jamie war wie der Blitz an der Kommunikationskonsole und beugte sich zwischen den beiden Frauen vor.
»Was ist los, Tomas?«
»Fuchida lebt. Aber er hat sich den Tornister angeschlagen, und die Batterie arbeitet nicht. Keine Heizung, keine Ventilation, nichts in seinem Anzug funktioniert.« Rodriguez' Stimme klang angespannt, aber beherrscht, wie die eines Piloten, dessen Düsentriebwerk gerade in Brand geraten ist: Probleme, aber nichts, was sich nicht beheben ließe. Bis zum Aufschlag.
Dann fügte er hinzu: »Wir sitzen auf einem Sims ungefähr fünfzig Meter unterhalb des Randes fest und kommen nicht mehr rauf, weil das Gestein mit Trockeneis überzogen und zu glitschig zum Klettern ist.«
Als der Astronaut anschließend schilderte, dass sich die Seilwinde bei dem Versuch der beiden, sich den Hang hinaufziehen zu lassen, beinahe aus ihrer Verankerung gelöst hatte, tippte Jamie Hall auf die Schulter und befahl ihr, die technischen Daten des Luftzirkulationssystems im Raumanzug auf den Bildschirm zu holen.
»Okay«, sagte er, als Rodriguez verstummte. »Ist einer von euch verletzt?«
»Ich hab ein paar blaue Flecken, Mitsuo hat einen schlimmen Knöchel. Er kann nicht darauf stehen.«
Einer der Bildschirme an der Konsole zeigte jetzt ein Schaubild des Luftzirkulationssystems der Anzüge. Auf dem Bildschirm nebenan ließ Hall eine lange Liste durchlaufen.
»Wie geht es dir, Mitsuo?«, fragte Jamie, um Zeit zu gewinnen, Zeit zum Nachdenken, Zeit, die Informationen zu bekommen, die er brauchte.
»Sein Funkgerät ist kaputt«, erklärte Rodriguez. Ein Zögern, dann: »Aber er sagt, ihm ist warm. Er schwitzt.«
Vijay nickte und meinte leise: »Hyperthermie.«
Seltsamerweise gluckste Rodriguez. »Mitsuo sagt auch, er hat siderophile Organismen in der Caldera entdeckt! Er will, dass Trudy das weiß.«
»Ich hab's gehört«, sagte Trudy, die immer noch die technischen Daten des Anzugs über den Bildschirm laufen ließ. »Hat er Proben genommen?«
Wieder eine Pause, dann antwortete Rodriguez: »Jawoll. Im Gestein ist Wasser. Flüssiges Wasser. Mitsuo meint, du musst es publizieren … ins Netz stellen.«
»Flüssig?« Trudy stoppte den Bildlauf. Ihre Augen wurden groß. »Bist du sicher, dass …«
»Das ist jetzt nicht so wichtig«, unterbrach Jamie, der die Zahlen auf Trudys Bildschirm studierte. »Den technischen Daten des Anzugs zufolge habt ihr genug atembare Luft für mindestens zwei Stunden, selbst wenn die Lüftung aus ist.«
»Dann können wir hier unten nicht bis zum Tagesanbruch warten«, erwiderte Rodriguez.
Jamie sagte: »Tomas, ist Mitsuos Geschirr noch mit der Winde verbunden?«
»Soweit ich sehe, ja. Aber wenn wir versuchen, uns mit der Winde rauszuziehen, reißen wir das Gerät damit aus dem Boden.«
»Dann muss Mitsuo allein nach oben.«
»Allein?«
»Ganz recht«, sagte Jamie. »Er soll sich von der Winde hochziehen lassen. Dann nimmt er das Geschirr ab und schickt es dir runter, damit du raufkommen kannst. Verstanden?«
Im fahlen Licht der Helmlampen konnte Fuchida Rodriguez' Gesicht hinter der getönten Sichtscheibe nicht sehen, aber ihm war klar, was der Astronaut empfinden musste.
Er drückte seinen Helm an den von Rodriguez und sagte: »Ich kann dich nicht allein und obendrein ohne Seil hier unten zurücklassen.« Rodriguez' Helmmikro musste seine Stimme aufgenommen haben, weil Waterman eisenhart erwiderte: »Keine Diskussion, Mitsuo. Du beförderst deinen Arsch da rauf und schickst das Geschirr wieder runter. Es sollte nicht mehr als ein paar Minuten dauern, bis ihr beide oben seid.«
Fuchida setzte zu Einwänden an, aber Rodriguez schnitt ihm das Wort ab. »Okay, Jamie. Klingt gut. Wir melden uns wieder, sobald wir oben sind.«
Fuchida hörte, wie die Verbindung abbrach.
»Ich kann dich nicht hier lassen«, sagte er. Er war beinahe verzweifelt.
»Das musst du aber, Mann. Sonst wird's keiner von uns schaffen.«
»Dann geh du zuerst und schick das Geschirr wieder zu mir herunter.«
»Kommt nicht in Frage«, sagte Rodriguez. »Ich kann dich mit deinem schlimmen Knöchel nicht hier unten alleinlassen. Außerdem bin ich darauf trainiert, mit gefährlichen Situationen fertigzuwerden.«
Fuchida sagte: »Aber es ist meine Schuld …«
»Quatsch!«, fauchte Rodriguez. Dann fügte er hinzu: »Ich bin größer und härter als du, Mitsuo. Jetzt komm in die Hufe und hör auf, Zeit zu verschwenden!«
»Wie willst du das Geschirr denn im Dunkeln finden? Es könnte zwei Meter vor deiner Nase baumeln, und deine Helmlampe würde es trotzdem nicht erfassen.«
Rodriguez gab ein fast schon verächtliches Schnauben von sich. »Binde eine der Baken dran und schalte das Licht ein.«
Fuchida war beschämt. Daran hätte ich denken müssen. Es ist so einfach. Ich muss wirklich durcheinander sein, mein Verstand funktioniert nicht so, wie er sollte.
»Los jetzt«, sagte Rodriguez. »Leg dich wieder auf den Bauch und starte die Winde.«
»Warte«, sagte Fuchida. »Da ist etwas …«
»Was?«, fragte Rodriguez ungeduldig.
Fuchida zögerte, dann sagte er sehr schnelclass="underline" »Falls … falls ich es nicht schaffe … falls ich sterbe … würdest du dich mit jemandem in Verbindung setzen, wenn du zur Erde zurückkommst?«
»Du wirst nicht sterben.«
»Ihr Name ist Elizabeth Vernon«, fuhr Fuchida fort, voller Angst, dass er nicht weitersprechen könnte, wenn er jetzt innehielt. »Sie ist Laborassistentin im Fachbereich Biologie der Tokioter Universität. Sag ihr … dass ich sie liebe.«
Rodriguez verstand die Bedeutung der Worte seines Gefährten. »Deine Freundin ist keine Japanerin?«
»Meine Frau«, erwiderte Fuchida.
Rodriguez stieß einen leisen Pfiff aus. »Okay, Mitsuo. Klar. Ich werd's ihr sagen. Aber du kannst es ihr selbst sagen. Du wirst nicht sterben.«
»Natürlich nicht. Aber falls doch …«
»Ja. Ich weiß. Los jetzt!«
Widerstrebend gehorchte Fuchida. Er hatte schreckliche Angst vor tausend Gefahren — von der Möglichkeit, dass sein Anzug aufreißen könnte, bis zu der Aussicht, dass er seinen Partner hier im Dunkeln erfrieren lassen könnte. Aber noch mehr Angst hatte er davor, hier zu bleiben und nichts zu tun.
Noch schlimmer, ihm war heiß. Er ging in dem Anzug vor Hitze ein. Zähneknirschend klammerte er sich mit aller Kraft, die die Servomotoren seiner Handschuhe aufbieten konnten, am Seil fest. Dann wurde ihm klar, dass er eine freie Hand brauchte, um die Windensteuerung an seinem Klettergeschirr zu betätigen.
Er tastete nach dem Bedienungsknopf, versuchte verzweifelt, sich darauf zu besinnen, welcher die Winde in Gang setzte. Er fand ihn und drückte darauf. Einen Moment lang geschah gar nichts.
Dann wurde er plötzlich von dem Sims gerissen und den harten, felsigen Hang der Caldera hinaufgeschleift. Sein Anzug schabte knirschend und kreischend über den rauen Stein.
Ich werde es nie schaffen, erkannte Fuchida. Selbst wenn der Anzug nicht kaputtgeht, werde ich hier drin ersticken, bevor ich oben ankomme.
NEW YORK
Es war ein paar Minuten nach achtzehn Uhr in Manhattan, ein kalter, windiger, regnerischer grauer Herbsttag im Big Apple. Menschen eilten in Scharen an Schaufenstern vorbei, die von Lichtern und kunstvollen Weihnachtsdekorationen erstrahlten, hasteten durch den starken, strömenden Regen und in die feuchten, lärmigen U-Bahn-Tunnels, auf dem Weg nach Hause, zu ihren Familien, dem Abendessen und den abendlichen Halloween-Ausflügen — Spuk oder Süßes — mit den Kindern.