Und Elizabeth. Vielleicht ist es besser so. Sie kann nach Irland zurückkehren und sich einen Ehemann aus ihrer eigenen Kultur suchen. Mein Tod wird ihr ein Leben voller Probleme ersparen.
Die Winde stoppte abrupt, und Fuchida bekam einen ungeheuren Schreck. Sie klemmt! In diesem Moment wurde ihm klar, dass er nicht bereit war zu sterben. Er wollte nicht sterben. Nicht hier auf dem Mars. Überhaupt nicht.
Ein böses rotes Auge starrte ihn an. Fuchida dachte einen Moment, er hätte das Bewusstsein verloren, dann ging ihm langsam auf, das es das Licht einer der Geo/Met-Baken war, die sie am Rand der Caldera aufgestellt hatten.
Er strengte seine Augen in der von Sternen erhellten Dunkelheit an und glaubte, die Umrisse der Winde über seinem ausgestreckten Körper aufragen zu sehen. Er langte hin und berührte sie.
Ja! Er war oben. Aber er war am Rande der Ohnmacht, und ihm war schwindlig. Sein Körper war schweißgebadet. Hitzschlag, dachte er. Wie komisch, an einem Hitzschlag zu sterben, wenn die Temperatur außerhalb meines Anzugs fast hundertdreißig Grad unter Null beträgt.
Er lachte, obwohl er wusste, dass er drauf und dran war, hysterisch zu werden, aber es gelang ihm nicht, sich zu beherrschen. Bis er unkontrolliert zu husten begann.
Unten auf dem Sims versuchte Rodriguez, seine eigenen Ängste in Schach zu halten.
»Mitsuo«, rief er über die Anzugfrequenz. »Alles in Ordnung?«
Keine Antwort. Natürlich nicht, du Dummkopf! Sein Funkgerät funktioniert ja nicht. Die Kälte schien in seinen Anzug zu sickern. Es war so kalt, dass Kohlendioxid gefror. So kalt, dass die Anzugheizung nicht mehr dagegen ankam. So kalt, dass man sterben konnte.
Es war pure Phantasie, das wusste er. Wahrscheinlich wirst du in deinem Anzug eher gebraten wie Mitsuo, statt zu erfrieren.
»Rauf mit dir, Mitsy«, flüsterte er. »Sieh zu, dass du heil raufkommst, und schick mir das verdammte Seil runter!«
Er würde mich nicht hier zurücklassen. Nicht, wenn er nach oben gekommen ist. Er würde nicht zum Flugzeug laufen und mich hier lassen. Er kann sowieso nicht laufen. Nicht mal gehen. Aber wenn er erst mal oben ist, könnte er's bis zum Flugzeug schaffen. Humpeln, auf einem Bein hüpfen. Oder sogar kriechen. Nein, das würde er nicht tun. Er würde mich nicht allein hier unten sterben lassen. Irgendwas muss ihm zugestoßen sein. Er ist bestimmt verletzt oder ohnmächtig.
Mit einemmal kam ihm die Erinnerung an den Tod seines großen Bruders wieder hoch. Ganz plötzlich sah er Luis' blutüberströmten, zerschmetterten Körper, als die Retter ihn aus dem Wrack des Sattelschleppers holten. Eine Verfolgungsjagd mit der Polizei auf dem Freeway. All diese Jahre hatte sein Bruder mit seinem Neunachser Drogen aus Tijuana ins Land geschmuggelt, und Tomas hatte es nicht gewusst, es nicht mal geahnt. Er konnte nichts tun. Als er Luis' umgekipptes Gefährt am Mittelstreifen des Highways liegen sah, war es schon zu spät.
Er sah sich machtlos und wie versteinert dastehen, als sein Bruder für tot erklärt, in den wartenden Krankenwagen geschoben und abtransportiert wurde. Einfach so. Der Tod kann wie ein Blitzstrahl zuschlagen.
Was hätte ich tun können, um ihn zu retten, fragte sich Rodriguez zum tausendsten Mal. Irgendwas hätte ich tun müssen. Aber ich war zu beschäftigt mit der Fliegerei und dem AstronautentrAlning. Ich hatte keine Zeit für die Familie, für meinen eigenen Bruder.
Mit einem Seufzen sog er die Flaschenluft tief in seine Lungen. Tja, nun gleicht es sich aus. Ich bin bis zum Mars gekommen, und jetzt werde ich hier sterben.
Dann hörte er die weiche, melodische Stimme seines Bruders. »Keine Furcht, muchacho. Zeig niemals Furcht. Nicht mal dir selbst gegenüber.«
Rodriguez empfand keine Furcht. Nur eine tiefe Traurigkeit, dass er Luis nicht hatte helfen können, als dieser seine Hilfe gebraucht hatte. Und jetzt würde es alles enden. Die Reue, die Hoffnungen, alles …
Einen Moment lang glaubte er, ein rotes Licht an der Felswand aufleuchten zu sehen. Er kniff die Augen zusammen. Nichts. Er schaute nach oben, aber das Oberteil seines Helms nahm ihm die Sicht. Du klammerst dich an einen Strohhalm, sagte er sich. Wenn man unbedingt etwas sehen will, dann sieht man's auch, selbst wenn es gar nicht da ist.
Doch dann blitzte das rote Licht erneut auf, und als er diesmal die Augen zusammenkniff, verschwand es nicht wieder. Diese verdammten Helme, dachte er wütend. Man kann erst was sehen, wenn man's direkt vor der Nase hat.
Er versuchte, den ganzen Oberkörper ein bisschen nach hinten zu neigen, und war sich dabei nur allzu deutlich bewusst, dass er ohne Weiteres von dem Sims rutschen und in die bodenlose Caldera hinabstürzen konnte.
Und da war sie! Der Lichtschein der Bake schwankte weit über ihm hin und her, wie das unverwandt auf einen herabschauende Auge eines alles sehenden Erlösers.
Er lehnte sich wieder an die Felswand. Er hatte weiche Knie, und seine Beine waren wie aus Gummi. Scheiße, Mann, du hast echt Angst gehabt.
Jetzt konnte er die Umrisse des herabhängenden Geschirrs ausmachen, an dem mit Klebeband die ausgezogene Stange der Bake befestigt war. Wo, zum Teufel, hat Mitsuo Klebeband her, fragte er sich. Er muss es die ganze Zeit dabeigehabt haben. Das universelle Allheilmittel. Nach unserer Rückkehr zur Erde könnten wir einen Werbespot für das Zeug drehen: Gehen Sie auf dem Mars kein Risiko ein — tragen Sie auf Schritt und Tritt ein lebensrettendes Klebeband bei sich.
Es schien eine Stunde zu dauern, bis das winzige Licht so nahe war, dass er es packen konnte. Mit nur geringfügig zitternden Händen langte Rodriguez nach oben, ergriff die Bake, riss sie los und schob die Arme ins Klettergeschirr. Dann ließ er die Verschlüsse zuschnappen und zog versuchsweise am Seil. Es fühlte sich fest und gut an.
Er wollte schon auf den Bedienungsknopf drücken, der die Winde aktivierte, aber dann hielt er inne. »'blick noch«, flüsterte er im Steno der Berufsflieger.
Er bückte sich, hob die Bake auf, zog sie zu ihrer vollen Länge aus und rammte ihr spitzes Ende in eine Spalte in der Basaltwand. Wahrscheinlich bleibt sie nicht sehr lange hier, dachte er, und sie funktioniert sowieso nur, wenn die Sonne ein paar Stunden pro Tag drauf — scheint, aber es war ein befriedigendes Gefühl, ein Andenken zu hinterlassen, dass Menschen von der Erde hier gewesen waren, die Grube betreten, zumindest einige ihrer Geheimnisse gelüftet und überlebt hatten.
»Okay«, sagte er zu sich und hielt sich mit einer Hand am Seil fest. »Ab geht die Post!«
Er drückte auf den Bedienungsknopf und wurde von den Füßen gerissen. Dann merkte er, wie er knirschend, schabend und sich drehend den Felshang hinaufgezerrt wurde. Sein Kopf schlug im Helm hin und her, und seine Beine und gestiefelten Füße hüpften über den Stein.
Schlimmer als jede Simulatorfahrt, die er beim Training durchgestanden hatte. Schlimmer als die Zentrifuge, in der sie ihn herumgewirbelt und hohen G-Kräften ausgesetzt hatten. Diese Nummer wird's nie nach Disneyland schaffen, dachte Rodriguez. Seine Zähne klackerten aufeinander, als er hüpfend und tanzend zum Rand der Caldera hinauffuhr.
Dann war es endlich vorbei. Rodriguez lag keuchend, außer Atem und mit Schmerzen am ganzen Leib da. Fuchidas vom Raumanzug umhüllte Gestalt lag reglos neben ihm auf dem Boden.
Rodriguez rollte sich auf die Seite, so weit sein Tornister es erlaubte. Jenseits von Fuchidas dunkler Silhouette war der Himmel voller Sterne. Strahlend helle, freundliche Sterne schienen auf ihn herab, wie tausendmal tausend Juwelen. Ein himmlischer Anblick.
Ich hab's geschafft, sagte sich Rodriguez. Dann verbesserte er sich: Noch nicht. Kann man noch nicht sagen.
Er legte seinen Helm an den von Fuchida. »He, Mitsuo! Alles okay?«
Es war eine dämliche Frage, und er wusste es. Fuchida gab keine Antwort, aber Rodriguez glaubte, den Biologen atmen oder vielmehr keuchen zu hören, flach und schnell.