»Ich muß wieder von vorne anfangen«, sagte er argwöhnisch. »Weshalb sind wir drei hier? Warum nicht ein Mitglied des Präsidiums oder der Ratspräsident oder jemand von ähnlicher Bedeutung?«
Mavra Tschang lächelte.
»Zum Teil war es Zufall, Ihre Rolle, meine ich. Ich hatte es auf Yua abgesehen.«
Die Priesterin merkte noch stärker auf, blieb aber stumm.
»Was wir am wenigsten kennen, ist die Geschichte der Gruppe, nachdem Obie und ich das Weite gesucht hatten«, erklärte Mavra. »Wir mußten also eine lebende Olympierin finden, und davon gibt es nicht viele. Wir zielten schließlich auf die Massenversammlung, um sie uns zu holen. Als sie ganz entrüstet zurückkam, lauschte ich und kam dahinter, daß sie den Kom-Bund um Hilfe ersuchte, Brazil zu finden. Ich beschloß, auf Sie zu warten.«
Marquoz nickte. Es ergab Sinn.
»Ich möchte mehr über Sie wissen«, sagte er zu Mavra. »Ich möchte wissen, wer Sie sind, und was Sie meinten, als Sie sagten, Sie wären Brazils Urenkelin.«
»Mich interessiert das auch«, fügte Yua hinzu.
Mavra lehnte sich zurück.
»Ich war früher eine Art Mädchen für alles, gegen Geld zu haben, für anständige Dinge, versteht sich. Ein Frachterkapitän, der Nebenaufträge übernahm. Rätin Alaina heuerte mich an, bei Treligs Vorführung dabeizusein. Das tat ich, und wir fanden uns plötzlich alle auf der Schacht-Welt wieder. Ich brauchte mehr als zwölf Jahre, um von dort fortzukommen. Was die Frage angeht, ob ich Brazils Urenkelin bin, handelt es sich in erster Linie darum, wie man das betrachtet. Ich war die Enkelin von Leuten, die Brazil zum Kom-Bereich zurückbrachte, nachdem sie auf der Schacht-Welt gewesen waren; er gab ihnen in neuen Körpern ein neues Leben. Als die Heimatwelt meiner Eltern totalitären Kräften anheimfiel, holte Brazil mich heraus — meine Großeltern, inzwischen alt geworden, waren auf die Schacht-Welt zurückgekehrt — und brachte mich zu einem Frachterkapitän. Durch chirurgische Eingriffe bekam ich Ähnlichkeit mit ihm.«Sie sah, wie Yua die Augen aufriß, und fügte hinzu:»Ich war damals noch ganz klein, und es war das einzige Mal, daß ich ihn sah.«
Sie richtete den Blick wieder auf Marquoz. »Nun, auf der Schacht-Welt traf ich auf meine Großeltern in neuer Gestalt. Sie gehörten zu den Leuten, die unseren Kampf mit Ben Yulin überlebten. Er verwandelte die ganze Gruppe in seine Traumfrauen — die Schweife waren ein nachträglicher Einfall, seine Art von Humor — meine Großeltern eingeschlossen. Sie wurden die Gründerinnen von Olympus, eure Ersten Mütter doch wohl.«
Yua war ein wenig bestürzt über die beiläufige Weise, in der man über ihren Glauben und die verehrten Ersten Mütter sprach, sagte aber nichts. Zigeuner dagegen war mit seinem Essen fertig und machte sich nun sorglos über das von Yua und Mavra Unberührte her.
Marquoz schwieg nachdenklich. Was sie sagte, war logisch, und er wäre der letzte gewesen, sich darauf zu versteifen, daß die Zinder-Vernichter nicht alles verpfuscht hatten. Das Loch wuchs ganz entschieden weiter, und sie waren alle machtlos, es zu stopfen.
»Sagen Sie, Yua«, meinte er bedächtig, »mit einem Minimum an Frömmigkeit und Religion etcetera, woher wissen Sie denn, daß Nathan Brazil Gott ist?«
Die Olympierin wirkte ein wenig überrascht, als sie sich plötzlich im Mittelpunkt sah.
»Aber zwei der Ersten Mütter — sie seien gepriesen — haben das gesagt. Sie erklärten, sie wären mit Nathan Brazil auf dem Planeten des Schachtes gewesen, und ER hätte ihnen nicht nur erklärt, ER sei Gott, sondern ihnen das auch durch SEINE Werke gezeigt.«
»Ah, meine Großeltern«, sagte Mavra. »Versteht sich.«
Der Chugach wandte sich der kleinen Frau zu.
»Und?«
»Obie versteht mehr davon als ich«, erwiderte sie achselzuckend. »Er hat ihre Erinnerungen bis zum letzten Abschied und auch die meinen viel vollständiger, als ich mich entsinne. Also, Obie?«
Der Computer antwortete nicht, aber sie hörten das Surren der kleinen Parabollampe über der Plattform. Marquoz schrie auf und wollte von der Plattform springen, aber es war schon zu spät. Der violette Strahl erfaßte sie alle.
Sie befanden sich an einem seltsamen Ort, ohne jede Ähnlichkeit mit irgendeinem zuvor gesehenen. Es gab Wände mit unverwechselbaren Steuerelementen, Schaltern, Hebeln, Tasten und offenbar einem großen Bildschirm. Nein, kein Bildschirm, sahen sie, sondern ein langer, dunkler Tunnel, ein gewaltiges Oval, zurückreichend, so weit das Auge reichte oder die Perspektive den Blick gewähren ließ. Als sie genauer hinschauten, konnten sie sehen, daß die Schwärze von Billionen winziger, kohlschwarzer Punkte, Knöpfen ähnlich, hervorgerufen wurde, vor dem Grau-Schwan der sie einfassenden Oberfläche so nah zusammengedrängt, daß sie selbst die Wände zu sein schienen. Zwischen den schwarzen Punkten zuckten in wilder Geschäftigkeit elektrische Blitze, Billionen flackernder, haardünner Lichtbogen von einem kleinen, schwarzen Punkt zum anderen, scheinbar wahllos, obwohl sie aus irgendeinem Grund wußten, daß alles einem Plan entsprach.
Sie waren nicht allein in der Kammer. Drei waren menschlich: eine junge, geschlechtslos gemachte Frau aus einer der insektenartigen Kommunalwelten, eine zweite, junge Frau, voll entwickelt, aber schwach und ausgezehrt wirkend, und ein Junge, ebenfalls aus einer der Klon- und Gen-Manipulations-Fabriken. Bei ihnen befanden sich, was eine Meerjungfrau zu sein schien, auf einem Riesenwesen von der Art einer gigantischen, fremdartigen Küchenschabe reitend; ein grünes Pflanzenwesen mit einem Kopf vom Aussehen eines gekrümmten Kürbis und langen, dünnen, rankenartigen Gliedern; ein mächtiges Wesen, das aussah wie ein menschlicher Rumpf mit sechs Armen und ein walroßartiges, schnurrbärtiges Gesicht auf einem zusammengerollten Schlangenkörper — und die Erscheinung, die auf irgendeine Weise bewirkte, daß alle anderen irgendwie verwandt zu sein schienen.
Es war gallertartig, eher formlos, ein gigantisches, schlagendes, pulsierendes Herz auf sechs langen, kräftigen Tentakeln. Es schien weder Augen noch Ohren noch irgendwelche anderen Sinnesorgane zu besitzen.
»Das fremdartige Wesen ist ein Markovier«, konnten sie Obies Stimme erläutern hören. »Das ist Nathan Brazil in seiner wahren Gestalt. Ihr befindet Euch im Inneren des Schachts der Seelen, in einem Kontrollraum für eine der Rassen, vermutlich der unsrigen, so, wie die beiden Frauen — Vardia und Wu Julee, zwei von Yuas Ersten Müttern, übrigens nicht zufällig Mavras künftige Großeltern — sich daran erinnerten.«
Sie nahmen jetzt wahr, daß die Szene, dreidimensional und lebensecht, in Wirklichkeit ein Bild war, erstarrt und unverrückbar. Obie wählte nun seinen Ausgangspunkt, und die Szene begann abzulaufen. Zum erstenmal sahen sie, daß die sechsarmige Walroß-Schlange neben anderen eine Waffe auf das Wesen richtete, das Obie Nathan Brazil nannte.
»Nate! Zurück!«warnte der Schlangenmann drohend. »Du kannst getötet werden, das weißt du!«
Die pulsierende Masse neigte sich dem Schlangenwesen ein wenig zu.
»Nein, Serge, das kann ich nicht. Das ist nämlich das Problem. Ich habe euch gesagt, daß ich kein Markovier bin, aber niemand wollte darauf hören. Ich bin hergekommen, weil ihr die Steuertafel beschädigen und einer Rasse Schaden zufügen könntet, von der ich vielleicht nicht einmal etwas weiß. Ich wußte, daß ihr das hier nicht gebrauchen könnt, aber ihr seid jetzt alle ganz wahnsinnig geworden, und einer oder mehrere von euch könnten zerstören, könnten die Gefahr auf sich nehmen. Aber in eurem Wahnsinn ist keiner von euch auf den Gedanken gekommen, die eigentliche Frage zu stellen, die eine unbeantwortete Frage in dem Rätsel. Wer hat die markovische Gleichung stabil erhalten, die grundlegende für das Universum?«
Es herrschte plötzlich betäubtes Schweigen, abgesehen von einem unheimlichen Wamm, Wamm, Wamm wie dem Pochen eines großen Herzens. Schließlich sprach Brazil weiter.