»Zuletzt wohl die Heilige Mutter«, gab Yua zurück. »Ich habe sie nie gesehen.«
»Aber sie ist im Muttertempel?«
»So heißt es.«
Der Muttertempel war eindrucksvoll; obwohl nicht höher als die anderen Gebäude, war er erbaut wie eine mittelalterliche Burg aus schimmerndem Metall mit einer Vielzahl an Türmen und Zinnen. Nachts wurde er von bunten Scheinwerfern angestrahlt, aber selbst mittags wirkte er imposant.
Man stieg eine unendlich lange Steintreppe hinauf; das Gebäude selbst war verankert und ruhte am Urgestein der Berge rings um die Stadt.
Auf der rechten Seite konnten Mavra und Yua den Pilgerpfad sehen, der zur Stätte der ersten Siedlung führte. Der Weg schien nicht allzuweit zu sein, und Mavra schlug vor, den Besuch zu unternehmen, bevor sie den eigentlichen Tempel betraten. Die Olympier mochten Obies Kinder sein, aber die dominierenden Ersten Mütter waren Mavra Tschangs Großeltern gewesen.
Der gut instand gehaltene Steig war gesäumt von Schildern, Schaustücken und bildlichen Darstellungen, welche die Gründungsgeschichte von Olympus erzählten.
Die frühen Hütten waren in der Tat primitiv; Mavra vermutete, daß sie nicht so einfach hätten sein müssen. Die Schlichtheit war offenbar ein bewußt unternommener Versuch gewesen, den Aufbau einer neuen Rasse und Kultur von Grund auf durchzusetzen, mit möglichst wenig Versuchung durch die Kom-Welten. Die Ersten Mütter hatten sofort erkannt, daß sie nur die Gestalt wunderschöner, menschlicher Frauen trugen, daß sie innerlich, biologisch und in anderer Hinsicht, eine fremde Rasse waren und in der damals völlig menschlichen Kom-Umwelt als Mißgeburten betrachtet werden würden. Aber in einer Hinsicht hatten sie sich getäuscht; geistig waren sie über die Menschheit hinausgewachsen, und das trugen sie mit sich.
Über ihnen, in Stein gehauen und vergoldet, standen die Namen der elf Ersten Mütter. Die meisten waren Mavra nicht vertraut, weil sie Flüchtlinge von Neu Pompeii gewesen waren, aber da standen auch Kally ›Wuju‹ Tonge und Vistaru, ihre Großeltern, neben Dr. Zinders Tochter Nikki und Nikkis Tochter Mavra. Und nach den elf Namen kam noch ein weiterer, abgesetzt und dick mit Gold umrandet.
MAVRA TSCHANG TONGE stand da.
»Na, hol mich der Teufel«, sagte Mavra halblaut. »Hol mich der Teufel, wenn mir nicht ganz seltsam zumute wird.«
Yua sah sie erstaunt an.
»Aber das seid Ihr, nicht wahr?«ächzte sie. »Darauf bin ich einfach nicht gekommen!«
»Bringen wir das hinter uns«, sagte Mavra knapp. Sie ging den Weg hinunter, und Yua folgte ihr. Äußerlich wirkte Mavra wieder völlig sachlich.
Obie? Wo bist du jetzt?
»In diesem System gibt es viel Raumschutt«, antwortete der Computer sofort. »Ich bin gut getarnt, aber in Reichweite.«
Hast du mich geortet? Sie stieg die lange Treppe zu den Türen des Muttertempels hinauf. »Ich bin eingepeilt«, versicherte Obie. »Sagen Sie mir nur Bescheid, wenn Sie etwas brauchen.«
Olympierinnen stiegen die Treppe hinauf und hinab und gingen bei den großen Toren hinaus und hinein. Die meisten waren geschweifte Aphrodites, eine oder zwei aber schweiflose Athenen, in Tempelgewänder gekleidet.
Das Innere des Muttertempels hatte mehr Ähnlichkeit mit dem Aufenthaltsraum eines Raumflughafens als mit einem religiösen Zentrum; von der Decke eines großen Saales hing in der Mitte ein kompliziertes Modell der Schacht-Welt, und auf den Mosaikfliesen an Boden und Wänden waren zahllose, fremde Wesen dargestellt. Viele Eingänge und Korridore führten vom Saal hinaus, vor jedem stand ein Empfangstisch, besetzt mit einer Priesterin.
Yua ging fast durch den ganzen Saal, bevor sie an einen der Tische trat, sich mit gekreuzten Armen verbeugte und die dort sitzende Aphrodite begrüßte.
»Yua von Mendat zu Ihrer Heiligkeit«, sagte sie.
Die Empfangspriesterin nickte kurz und blickte auf eine Liste.
»Sie sind früh zurück, Hohepriesterin. Wir haben nichts von Ihrer Rückkehr erfahren.«
»Ich erstatte nur Ihrer Heiligkeit Bericht über Besprechungen mit der Kom-Regierung«, sagte Yua ein wenig eisig. »Sie wird mich empfangen.«
Die Priesterin zog ein wenig die Schultern hoch.
»Ich sage Ihrer Heiligkeit, daß Sie hier sind.«Sie sah Mavra an. »Ja?«
»Die Schwester gehört zu mir«, sagte Yua schnell, »und hat mit dem Bericht zu tun. Ich übernehme die volle Verantwortung.«
Die Priesterin zog die Brauen ein wenig hoch und tastete Yuas Code ein. Nach wenigen Sekunden leuchtete ein grünes Licht auf.
»Ihr könnt eintreten«, sagte sie. »Empfangsraum Drei rechts.«
Als sie sich dem betreffenden Raum näherten, glitt die Tür automatisch zur Seite. Im Inneren gab es zwei Steinbänke ohne Rückenlehnen fast in der Mitte des Raumes, und einen kleinen Stuhl aus Kunststoff für die menschliche Gestalt, ein wenig erhöht, den Bänken gegenüber. Außer diesen Möbelstücken gab es nur einen kleinen Tisch neben dem Stuhl.
Mavra und Yua saßen kaum, als hinter ihnen die Tür aufging. Sie standen auf und drehten sich um, als eine Olympierin in einem scharlachroten, bodenlangen Gewand zum Stuhl ging und sich darauf niederließ, damit beweisend, daß sie keinen Schweif besaß. Unter dem Arm trug sie Akten, die sie auf den Tisch legte.
»Hallo, Yua«, sagte sie. »Und wer ist das?«
»Ich bin eine Spionin«, sagte Mavra, bevor Yua antworten konnte. »Ich bin Mavra Tschang.«
Die Athene wirkte ein wenig verblüfft.
»Was soll das heißen?«fauchte sie. »Sind Sie verrückt?«
Obie? Hast du sie?
»Kein Problem, Mavra.«
Ein violettes Leuchten umgab die Athene. Sie schien aufzufunkeln, dann erlosch das Licht plötzlich.
Die Athene stand auf, lächelte die beiden an, verbeugte sich mit auf der Brust gekreuzten Armen und fragte leise:»Wie kann ich zu Diensten sein?«
Yua war starr vor Staunen. Da sie von Mavras Verbindung mit Obie nichts wußte, nahm sie das als weiteren Beweis dafür, einer Göttin gegenüberzustehen.
»Wer führt das Kommando über Olympus?«fragte Mavra.
»Natürlich die Heilige Mutter«, erwiderte die Athene.
»Sie hat hier die eigentliche, absolute Macht?«
»Gewiß. Wir gehorchen alle der Heiligen Mutter.«
»Ist sie hier im Tempel?«
»Immer.«
»Ich wünsche so rasch wie möglich eine Audienz. Können Sie dafür sorgen?«
»O ja, gewiß, obwohl das keineswegs angemessen ist. Aber ich brauche einen Grund, den ich ihr nennen kann.«
Daran hatte sie bereits gedacht.
»Sagen Sie ihr, daß Mavra Tschang Tonge von den Toten zurückgekehrt ist, um Nathan Brazil zu finden!«
Die Athene kam bald zurück.
»Bitte, folgt mir!«
Sie gingen zu einem Lift. Mavra sah an den Knöpfen, daß es zehn Stockwerke gab — vermutlich fünf über und fünf unter dem Grund. Die Athene betätigte keinen; die Tür schloß sich, und der Lift setzte sich von selbst in Bewegung. Die Etagenknöpfe flammten auf, bis sie den untersten erreichten — und sie fuhren noch an die dreißig Meter tiefer hinab.
Die Tür glitt zur Seite und gab den Blick auf eine trüb beleuchtete Kammer frei. Sie war rund, die Wände bestanden aus Kunststoff.
»Kehrt zur Oberfläche zurück und wartet auf weitere Anweisungen«, sagte Mavra zu den beiden Olympierinnen. Sie verbeugten sich und gehorchten.
Plötzlich schien im Raum Licht aufzuflammen.
»Sie beschießen Sie mit Hypnosedrogen«, ertönte plötzlich Obies Stimme. »Ich neutralisiere sie.«
Das war eigentlich naheliegend, dachte Mavra. Als Führerin mußte man Eindruck schinden.
Dann kam die Stimme, unglaublich alt, unfaßbar müde und völlig nicht-menschlich.