»Wer und was bist du?«fragte sie.
»Computerverstärkte Gedankenwellen, erste Stufe«, teilte Obie mit. »Das gehört nicht zur Darbietung. Dafür ist es zu komplex.«Er schien verwirrt zu sein, was Mavra gar nicht gefiel.
»Ich bin Mavra Tschang«, erklärte sie der Stimme.
»Mavra Tschang ist tot«, erwiderte diese. »Mavra Tschang ist seit mehr als sieben Jahrhunderten tot.«
»Mavra Tschang ist nicht gestorben«, erklärte sie der unsichtbaren Person. »Niemand kann Mavra Tschang töten.«
»Du bist wahnsinnig, mein Kind. Erlebe den Geist deiner Heiligen Mutter!«
Plötzlich spürte sie Qual, ungeheure Kopfschmerzen und ein Sengen im ganzen Nervensystem. Mavra stürzte in Agonie zu Boden. Sie konnte spüren, wie die andere, die Präsenz, langsam eindrang, ihren Geist überwältigte.
Obie, der ebenfalls überrascht worden war, reagierte nun schnell, ergriff Gegenmaßnahmen und zwang die fremdartige Präsenz hinaus. Es war kein andauernder Kampf; als Obie die Art des geistigen Überfalls analysiert hatte, konterte er auf der Stelle. Mavra war frei und blieb erschöpft am Boden liegen. Schließlich stand sie langsam auf und schaute sich um.
»Siehst du?«schrie sie. »Reden wir miteinander oder soll ich nun in deinen Geist eindringen?«Zorn war stets ein gutes Anregungsmittel. »Wer wagt es, in Mavra Tschang einzudringen?«
Obie spendete Beifall.
»Brav, Mädchen! Ganz ruhig, dann bringe ich Sie wieder in Ihre ehemalige Gestalt! Da werden die schön erschrecken!«
Sie wußte, daß Obie in sie hineingriff, daß sie von dem violetten Licht eingehüllt wurde, aber die Umstülpung ging sehr rasch vor sich und wurde ihr nicht deutlich bewußt. Sie wußte aber, daß ihre geschmeidige, schwarzgekleidete, menschliche Form von der oder den unsichtbaren anderen gesehen wurde. Wenn sie historische Unterlagen besaßen, wußten sie jetzt, wen sie vor sich hatten.
Sie konnte die Verblüffung in der fremden Stimme-Nichtstimme hören, als sie ächzte:»Sie sind wirklich Mavra Tschang!«
»Die bin ich«, sagte sie. »Und wer bist du?«
Die Stimme schwieg kurze Zeit, dann sagte sie:»Ich bin Nikki Zinder.«
Nun war Mavra selbst völlig entgeistert.
»Augenblick mal! Ich weiß, daß es mich noch gibt — aber das ist einfach nicht möglich.«Ein Computer, vermutete sie. Ein Computer, darauf programmiert, sich für Nikki zu halten. Eine Maschine, die sich für eine längst gestorbene Person hält.
Wie geht man mit einer solchen Maschine um?
»Neu Pompeii ist zerstört worden«, sagte die Stimme. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Obie wurde vernichtet. Die historischen Aufzeichnungen bestätigen das. Sie können nicht Mavra Tschang sein.«
»Obie lebt. Ich bin geblieben. Wir haben nur den Eindruck erweckt, wir wären vernichtet worden. Du kennst Obies Kräfte, du weißt, daß er das kann, daß ich also auch noch am Leben sein kann. Du hast Nikki Zinders Erinnerungen — du mußt wissen, daß es so sein kann.«
Es blieb kurze Zeit still.
»Sie reden so, als wäre ich nicht die, die ich bin«, sagte die Stimme dann. »Ich sage Ihnen, daß ich Nikki Zinder bin. Ich bin am Leben geblieben und jetzt dieser Maschine verbunden. Aber ich bin keine Maschine. Mein Geist und meine Seele leben, werden durch sie erhalten und verstärkt.«
»Aber warum? Warum Sie, Nikki?«sagte Mavra. »Warum nicht die anderen?«
»Die anderen sind wie ich alt geworden. Als feststand, daß sie sterben würden, als Touri wirklich starb, versammelten sie sich und trafen ihre Entscheidung. Sie wollten ein markovisches Tor finden, sie wollten auf die Schacht-Welt zurückgehen und wiedergeboren werden. Sie gingen alle, und soviel ich weiß, hatten sie Erfolg, meine Tochter eingeschlossen.«
»Aber nicht Sie?«
»Ich nicht. Wir hatten erst vor knapp zwei Jahrhunderten angefangen. Die Bevölkerung näherte sich gerade erst der Lebensfähigkeit. Die Pallas brauchten Führung, um die richtige Gesellschaft aufzubauen, eine Führung, die nur wir von den Ersten Müttern ihnen geben konnten. Wir besaßen die erforderliche Technologie. Ich schlug vor, daß man uns Erste Mütter am Leben erhielt, kybernetisch mit Computern verbunden, die uns unbegrenzt bewahren konnten. Die anderen weigerten sich, aber sie konnten mich nicht zwingen, sie zu begleiten. Seither bin ich geblieben; ich habe Wachstum und Entwicklung meines Volkes gesteuert und sie durch die Gründung der Gemeinde geführt. Die Größe, die Sie heute sehen, ist mein Werk.«
Obie?
»Ich fürchte, es ist wahr, Mavra. Es wäre mir anders lieber. Das erklärt die abseitige Kultur. Gehirn und Seele können so erhalten werden, wie sie sagt, aber die Hirnzellen regenerieren sich nicht. Sie muß senil sein, Mavra — senil, vermutlich wahnsinnig, und trotzdem übt sie alleinige Herrschaft über ein Volk aus, das nichts ahnt. Spielen Sie lieber mit.«
Mavra wählte ihre Worte mit Bedacht.
»Hören Sie, Nikki. Ihr eigenes Volk muß es Ihnen gesagt haben. Der Kom-Bund ist zum Untergang verurteilt, alles ist zum Untergang verdammt, durch dumme Leute, die die Forschungen Ihres Vaters mißbraucht haben. Wir müssen dem Einhalt gebieten, und das kann nur geschehen, wenn der Schacht der Seelen selbst repariert wird. Das kann nur Nathan Brazil tun, also arbeiten wir für eine gemeinsame Sache, Ihr und wir. Wir haben die Kom-Regierung veranlaßt, sich mit uns zusammenzutun; wir brauchen Ihr Volk für die eigentliche Arbeit. Wollen Sie mit uns zusammenwirken? Werden Sie die Zusammenarbeit befehlen?«
Nikki schien in Gedanken versunken zu sein. Schließlich sagte die Stimme:»Ja, Mavra, Ihr werdet erhalten, was Ihr braucht. Die einzige Bedingung ist, daß Olympierinnen zugegen sind, wenn Nathan Brazil gefunden wird.«
»Damit können wir einverstanden sein, glaube ich«, erwiderte Mavra. »Wir halten es für möglich, daß die Sekten-Gemeinde ihn verschreckt hat, also müssen wir, wenn wir ihn finden, sehr vorsichtig sein, damit wir ihn nicht wieder verlieren. Ich gebe Ihnen aber mein Wort, daß Ihre Leute Zugang zu ihm haben werden.«
»Das genügt«, sagte die Stimme. »Gehen Sie jetzt. Der Befehl ist bereits erteilt.«
Eine Aufzugtür öffnete sich. Mavra drehte sich um und ging darauf zu, dann blieb sie stehen und blickte über die Schulter in den leeren Raum.
»Leb wohl, Nikki«, flüsterte sie und betrat den Lift. Die Tür schloß sich.
Auf der anderen Seite öffnete sich ein zweiter Aufzug, und zwei Athenen stiegen in ihren scharlachroten Priesterinnengewändern aus. Sie knieten nieder und erwarteten Befehle.
»Mit einem Computer wie Obie, den Kom-Archiven und unseren eigenen Anhängerinnen wird Nathan Brazil bald gefunden sein«, erklärte Nikki Zinder. »Aber seid vorsichtig. Habt Ihr gesehen, wie behext die Hohepriesterin Yua und die Erzpriesterin Tala sind?«
»Wir haben es gesehen, Heilige Mutter«, erwiderten sie.
»Unsere Rasse entstammt Obie, aber auf den Befehl des Bösen«, sagte Nikki. »Wir wissen nicht, was der Böse getan hat, während er Obie beherrschte, aber wir können sicher sein, daß er der letzte gewesen ist, der die Schöpfung meines Vaters beherrscht hat. Es ist also mehr denn wahrscheinlich, daß Obie immer noch den Willen des Bösen ausführt, denn als Maschine hat er keine andere Wahl. Mavra Tschang wurde beim Sturm auf den Bösen verwandelt und getötet; das weiß ich, weil ich zugegen war. Was wir gerade gesehen haben, war eine Konstruktion von Obie, und, wenn von ihm stammend, auch unter dem Bann des Bösen. Vergeßt nie, daß wir es mit dem Teufel in Menschengestalt zu tun haben; sorgt dafür, daß keine anderen unter den Bann geraten, der unsere beiden Schwestern erfaßt hat. Wir brauchen sie, um Nathan Brazil zu finden. Wir haben einen Pakt mit dem Bösen, aber der Teufel wird sein Wort nur halten, solange das seinen Bedürfnissen entspricht. Es gibt keine Ehre in ihm, kein Vertrauen, keine Güte. Überwacht das Unternehmen; tut, was verlangt wird, aber entzieht Euch der Beherrschung durch den Bösen, vertraut keinem, der ihr unterliegt, und sorgt dafür, daß, wenn Nathan Brazil gefunden ist, wir allein zu ihm gelangen. Ist das klar?«