Er glitt herunter, und sie hatte das Gefühl, als wäre ihr eine tonnenschwere Last abgenommen worden. Es tat so wohl, daß es schmerzte, und sie versteifte sich ein wenig.
»Also, die Jungs in der Hafenbehörde sind gut dafür bezahlt worden, daß sie nicht auf uns achten«, erklärte er. »Aber da Sie eine Einheimische sind und ich keiner bin, könnte die Rassentreue die Habgier doch überwinden — obwohl ich mich nicht darauf verlassen würde. Ich werde das Ding jetzt also einstecken, und wir gehen beide hinüber in den Warteraum, wo wir uns gestern getroffen haben, und durch Flugsteig Vier zum Fährboot. Da mein Schiff noch nicht ganz entladen ist, wird man sich nicht viel dabei denken. Ich kann jetzt ohnehin die Umlaufbahn nicht verlassen.«
Sie nickte. Sie wußte, daß er nie so offen gewesen wäre, wenn seine Leute nicht alles abgedeckt hätten und die ganze Sache nicht genau vorbereitet gewesen wäre. Es spielte keine Rolle; alles, was sie wollte, war ein Gespräch.
Sie wünschte sich aber, Obie erlaubt zu haben, sie so zu präparieren, wie er es auf Olympus getan hatte. Sie war wegen der Geschichte mit dem Geburtstempel aber immer noch so zornig auf ihn, daß sie sich diesesmal rundweg geweigert hatte. Jetzt vermißte sie ihn. Sie wußte, daß Obie mit Nathan Brazil besser fertigwerden konnte als sie.
Sie betraten das Gebäude, und wie er vorausgesagt hatte, achtete niemand auf die beiden, nicht einmal auf sie — und sie hielt sich für eine Rhone von beachtlicher Anziehungskraft —, obwohl sie nackt war wie an dem Tag, an dem sie geboren worden war, wäre sie wirklich eine Rhone gewesen. Und das mitten im Winter!
Das Pilotboot war automatisiert und hob im Nu ab. Sie war dankbar für die Wärme und die Gelegenheit, zu Atem zu kommen. Brazil lehnte sich zurück und betrachtete sie mit einer Mischung aus Belustigung und Faszination.
»Dann also heraus damit, Tourifreet oder wie Sie wirklich heißen mögen«, begann er, »sind Sie der Kopf dieser Verschwörung oder nur eine Gehilfin? Wer wußte soviel, daß er Sie so nachbilden konnte?«
Obwohl sie noch ein wenig keuchte, brachte sie ein Lächeln zustande.
»Nicht Tourifreet, nein«, stieß sie hervor. »Mavra. Mavra Tschang. Ich bin Ihre Urenkelin, Mr. Brazil.«
Er zog eine Zigarre heraus und machte es sich an der Schottwand bequem.
»So, so, so… Was Sie nicht sagen. Hat Ihnen schon einmal jemand erzählt, daß Sie Ihrem Urgroßvater gleichen?«
An Bord der ›Jerusalem‹
Nach den ersten Worten sagten sie nicht viel. Das Boot dockte rasch an, und sie betraten durch die Luftschleusen das Innere des Raumschiffs. Achtern krachte und polterte es. Das Schiff wurde von Schleppern in Container zerlegt, und die Geräusche drangen bis zu ihnen. Er winkte ihr, und sie ging auf den Laufgängen weiter, bis sie den Aufenthaltsraum erreichten.
Es herrschte enorme Unordnung; überall lagen leere Nahrungsdosen, Stapel von Zeitungen und Papieren, Bücher in Sprachen, die sie nicht kannte, mit Umschlägen, die einen höchst sonderbaren Geschmack verrieten.
»Tut mir leid, daß es so schlimm aussieht, aber ich war einfach nicht in der Stimmung sauberzumachen, und mit Gästen hatte ich nicht gerechnet«, sagte er beiläufig, wischte einen Polstersessel ab und ließ sich hineinfallen.
»Haben Sie keine Angst, daß ich Sie überwältige, jetzt, wo wir allein sind?«fragte sie. »Schließlich bin ich viel größer und stärker als Sie.«
Er lachte leise.
»Nur zu! Das Pilotboot ist auf mich codiert, die Hecksektion befindet sich beim Entladen im Vakuumzustand, und bis die Hauer fertig sind, kann das Schiff nicht fliegen.«Er öffnete den Pistolengürtel und warf ihn auf den Boden.
Sie griff nach einem Buch und blickte auf den Umschlag.
»Ich habe in den Kom-Gebieten des Weltraums nie diese echten Bücher gesehen«, meinte sie neugierig. »Sagen Sie — ist das wirklich so, wie der Umschlag es anzudeuten scheint?«
Er feixte sie spöttisch an.
»Versteht sich, meine Liebe. Auch wenn sie innen nie so saftig sind, wie außen versprochen wird.«Er wurde ernster. »So haben die Leute sich früher informiert — und auch unterhalten, an die zweitausend Jahre lang. Alles v. C., versteht sich, vor den Computern in jedem Haus und Büro. Ich schätze sie immer noch — und es gibt genug Museen und Büchereien, wo man sie noch bekommen kann. Aber was da oft so aufbewahrt worden ist! Mann!«Er lehnte sich zurück und sah sie an. »Sie sind also Mavra Tschang, wie?«
Sie nickte.
»Sie wirken gar nicht so überrascht«, stellte sie fest.
Er lächelte.
»Ach was, ich wußte, daß Sie auf diesem kosmischen Golfball von Computer noch irgendwo unterwegs sein müssen.«
Sie war völlig entgeistert.
»Sie haben es gewußt? Aber wie denn?«Kurze Zeit tauchten Visionen von einem allmächtigen Gott vor ihr auf.
Er lachte wieder.
»Ach, das ist gar nicht geheimnisvoll. Der Computer hat eure Todesszene verpatzt, das ist alles. Er wartete drei volle Millisekunden, bevor er sich dünnmachte — vollauf im Erkennungsbereich anderer Computer. Er hätte das viel schneller machen können und sollen — eine Nanosekunde ist zum Beispiel angesichts der vielen Anti-Materie, die herumschwirrt, praktisch nicht feststellbar. Obie machte es langsam, weil zwar er die Belastungen schneller Beschleunigung ertragen konnte, aber nicht sicher war, ob Sie es vertrugen.«
»Für mich sind drei Millisekunden sehr schnell«, erklärte sie trocken.
Er zog die Schultern hoch.
»Alles ist relativ. Jedenfalls hat er es gut gemeint. Niemand unterzieht die Unterlagen einer solchen Prüfung wie ich. Man sah Sie explodieren, schaute sich die Aufzeichnung an, sah Sie wieder explodieren, und der Fall war erledigt.«
Ihr Staunen wurde dadurch nur wenig gedämpft.
»Sie haben also alles weiterverfolgt? Wir dachten, Ihr Gedächtnis…«
»Mein Gedächtnis ist einigermaßen in Ordnung«, erwiderte er. »Das menschliche Gehirn kann eben nur eine gewisse Informationsmenge aufnehmen, dann fängt es an, etwas abzustoßen, um Platz für Neues zu machen. Ich war schon einmal an diesem Punkt — als ich das letztemal im Schacht war, habe ich das behoben. Und es ist richtig, daß ich Bescheid wußte, jedenfalls über Trelig. Alaina kam mit dem Vorschlag zunächst zu mir. Ich überlegte, entschied, daß eine geringe Aussicht bestand, alle könnten auf der Schacht-Welt landen — was dann auch passierte —, und rechnete mir aus, daß man mich dort nicht mit Umzügen und Blaskapellen begrüßen würde. Deshalb empfahl ich Sie. Ich weiß aber nicht, warum ich nicht auf den Gedanken gekommen bin, daß Sie schon vorher beteiligt gewesen sind. Verdammt! Ich scheine nachzulassen.«
»Sie haben mich dafür vorgeschlagen?«sagte sie zornig. »Das ist also die Erklärung!«
Er zuckte die Achseln.
»Sie haben es richtig gemacht. Sie sind einige Jahrhunderte nach dem Zeitpunkt, an dem Sie im anderen Falle tot gewesen wären, noch existent. Warum nicht?«
Es gab keine befriedigende Antwort darauf, also verzichtete sie.
»Also, Urenkelin, was, zum Teufel, ist eigentlich los?«fragte er und lehnte sich zurück.
»Der Riß«, sagte sie. »Er muß an der Quelle behoben werden. Das wissen Sie. Warum haben Sie es nicht getan?«
Er wurde ernst.
»Weil ich vorzog, es nicht zu tun«, sagte er schlicht.
Sie war entsetzt.
»Vielleicht wissen Sie nicht, was vorgeht! In weniger als hundert Jahren —«
»Ist die Menschheit erledigt«, ergänzte er. »Und kurz danach kommen die Rhone, die Chugach und alle anderen Kom-Rassen an die Reihe. Ich weiß.«
Sie konnte nicht glauben, was sie hörte, und versuchte, Gründe zu finden, weshalb er eine so arrogante Einstellung zeigte. Es gelang ihr nicht.
»Soll das heißen, Sie können das nicht beheben?«