Marquoz nickte.
»Ich habe die Kom-Unterlagen gelesen.«
»Sie sagten, Sie wären dort notgelandet«, meinte Yua. »Das heißt, daß Sie selbst die Verwandlung im Schacht der Seelen nie durchgemacht haben.«
»Richtig. Eine ganz böse Rasse mit dem Namen Olborn besaß Steine, die jedes andere Wesen — oder auch sie selbst — in Lasttiere von der Art kleiner Esel verwandeln konnten. Ich bekam die Behandlung halb zu spüren und verbrachte lange Jahre mit dem Gesicht nach unten, auf vier Beinen mit Hufen, ohne Hände, ohne auch nur den Blick heben zu können.«Ihre Augen funkelten zornig. »Man legte mich auf Eis, für den Fall, daß man einen Piloten brauchte. Sie konnten es sich nicht leisten, mich durch den Schacht gehen zu lassen, weil sie keinen Einfluß darauf hatten, als was oder wo ich herauskommen würde.«
»Wie?«fragte Marquoz.
»Ein Halunke namens Serge Ortega«, sagte sie gereizt. »Ein Riesenwesen mit Walroßkopf, sechs Armen und langem Schlangenkörper. Ehemals ein Mensch, wie es heißt, und früher Frachterkapitän. Er fand irgendeinen Weg, praktisch unsterblich zu sein, solange er in Zone bleibt, dem normalen Zugang zur Schacht-Welt. Vermutlich gibt es ihn immer noch.«Sie lachte trocken. »Wenn es einen Mann gibt, den ich immer noch wirklich hasse, dann ist es vermutlich Ortega. Ich habe mir geschworen, ihn eines Tages umzubringen, wie ich die Männer getötet habe, die meinen Ehemann ermordeten. Ortega hatte kein Recht mir das anzutun!«
Nach einer langen Pause sagte Zigeuner:»Ich hätte gedacht, Sie wären längst zur Schacht-Welt geflogen, um ihn aus dem Weg zu räumen.«
»Obie ließ es nicht zu«, antwortete sie. »Obie hatte keine Macht über die Schacht-Welt und wollte mich nicht hinbringen, damit ich einfach eine alte Rechnung beglich. Ich habe das Gefühl, daß er Ortega aus irgendeinem Grund immer gut leiden konnte. Ich weiß nicht. Ortega und ich waren jahrelang eng verbunden, ohne daß ich ihm einmal begegnet wäre. Sonderbar.«
»Und dort gehen wir alle hin«, stieß Yua hervor. »Es klingt unfaßbar. Aufregend. Ich kann es kaum erwarten.«
»Genießen Sie es, solange Sie können«, sagte Mavra scharf. »Die Schacht-Welt ist alles, nur nicht romantisch. Sie ist gefährlich und tödlich. Ich habe sie nie vermißt.«
»Nun, trotzdem, ich —«begann Yua, aber in diesem Augenblick gab es ein scharfes, knisterndes Geräusch, als hätte in ihrer Nähe ein Blitz eingeschlagen. Sie zuckten alle zusammen und fuhren herum.
Nathan Brazil stand bleich und zitternd auf dem Podium. Er starrte ins Leere. Sie regten sich sekundenlang nicht und starrten ihn angstvoll an.
Er wankte ein wenig, immer noch ins Leere blickend. Schließlich sagte er:»Ich brauche was zu trinken. Nein, halt. Ich muß mich total betrinken.«
Dann brach er bewußtlos zusammen.
Nautilus — Oberfläche
Sie warteten zwei Tage darauf, daß Nathan Brazil darüber hinwegkam. Sein Puls ging sehr schwach und ging manchmal so stark zurück, daß man ihn kaum noch fühlen konnte; er bekam hohes Fieber, verfiel aber nie in ein Delirium. Er lag einfach da wie tot, und die Mediziner fragten sich, ob er je wieder würde aufstehen können. Man brachte ihn an die Oberfläche und in einer Luxussuite unter, ständig bewacht. Die Diagnose war einfach: Er litt an schwerstem Schockzustand, und man konnte wenig für ihn tun, als dafür sorgen, daß er warm gehalten, regelmäßig massiert und intravenös ernährt wurde.
Inzwischen besuchten Yua und Zigeuner Olympus, um zu verhindern, daß die halbe Bevölkerung auf Nautilus erschien. Sie kamen einen Tag später zurück und berichteten, daß Obie eine ganze Menge Wunder gewirkt hatte — einschließlich der Beseitigung aller Schweife, Yua ausgenommen. Jeder Hinweis darauf, daß es jemals zwei Gattungen, Athenen und Aphrodites, gegeben hatte, war verschwunden; die schweiflosen Frauen hießen Pallas.
Und Männer gab es auf Olympus auch — ganz offen. Sie hatten nichts zu sagen und wurden immer noch als Sexobjekte betrachtet, aber sie gehörten zur Gesellschaft — und hatten stets dazu gehört.
Überdies hatte die Gemeinde des Schachtes einen anderen Kurs eingeschlagen — und zwar durch gleichzeitige ›göttliche Offenbarung‹ für alle Hohepriesterinnen, damit es keinen Irrtum geben konnte. Um das Paradies für alle zu schaffen, so war ihnen erklärt worden, mußte Nathan Brazil zuerst zur Schacht-Welt, den Schacht betreten und das alte Universum auslöschen. Die Kräfte des Bösen würden versuchen, ihn aufzuhalten. Damit Olympus am bevorstehenden Himmel beteiligt sein konnte, mußten die Anhängerinnen eine Armee aufstellen, um Brazil zu helfen, damit er sein Ziel erreichen konnte. Dafür würden sie dem neuen, Heiligen Universum angehören, denn hier herrschten zwar auch die Kräfte des Bösen, aber sie würden bei der Neuerschaffung fortgefegt werden, was zu einem Universum ohne Böses führen mußte. Selbst der Tod bei diesem heiligen Kreuzzug würde im nächsten, großen Universum einen Platz sichern.
Marquoz bestaunte Obies Geschicklichkeit, als er den Bericht gehört hatte.
»Es ist viel einfacher, einen heiligen Kreuzzug zu führen, der durch göttliches Eingreifen geleitet wird«, stellte er fest.
Mavra Tschang lächelte nur.
»Immer dieselbe alte Geschichte. Für nichts gibt es nichts. Man hat ihnen einen Himmel angeboten, den wir nicht liefern können, und Leben über die Zerstörung des Universums hinaus, das wir im Austausch für ihre Dienste vielleicht einigen bieten können. Sie werden für eine Lüge kämpfen und sterben.«
»Wie üblich«, fügte Marquoz hinzu.
Ihr Gespräch wurde von einem Summton in Mavras Sprechgerät unterbrochen. Sie zog es vom Gürtelhaken und sagte:»Ja?«
»Ich glaube, er kommt zu sich«, sagte ein Mediziner.
Sie stürzten alle in Brazils Suite.
Nathan Brazil hatte an einer hübschen, dunklen, stillen Stelle geschwebt, die nur ihm gehörte. Denken war nicht verlangt gewesen; es war warm und behaglich, und man fühlte sich so wohl. Die Stille glitt jetzt davon, und Erinnerungen fluteten in sein Gehirn zurück. Zuerst konnte er keinen Sinn darin entdecken und gab sich auch keine Mühe; trotzdem stürmten sie weiter wie Soldaten in die Schlacht, bemüht, eine Art Ordnung zu finden.
Ein kleines Palmenwäldchen um ein klares, blaues Wasserloch; selbst da schon trockenes, ausgeglühtes Land, aber grün, nicht so, wie es werden sollte. Von Südosten ein leichter Wind, ein trockenes, schreckliches, heißes Streicheln, das keine Erleichterung brachte. Zwei junge Frauen, eine sehr hübsch, zwei kleine Kinder. Die der schönen Frau? Ein älterer Mann, ergrauender Bart, das Gesicht wettergegerbt und ledrig. Schwer zu sagen. Man redete in diesen schweren Zeiten nicht viel, versuchte nicht, neue Bekanntschaften anzuknüpfen.
Hufschlag. Männer auf Pferden. Kaum eine Gelegenheit, die Köpfe zu heben. Römer! Nur fünf, aber üble Burschen. Auf der Suche nach Zwistigkeiten. Er versteckte sich im Gebüsch und blieb liegen. Seltsam, andererseits sagte etwas in seinem Gehirn. Klang eigentlich nach mehr Pferden. Vielleicht verschiedene Richtungen? Verbargen sich noch andere im Gesträuch?
Die Römer sind abgestiegen. Die beiden kleinen Kinder, beide Jungen, waten nackt am Rand des Teichs, planschen und spielen. Die Römer schauen sich nach ihnen um, nach dem alten Mann und den beiden Frauen, prüfend und herrisch. Einer ruft dem anderen auf lateinisch etwas zu und zeigt finster auf die beiden kleinen Jungen. Er fängt ein Wort auf, das ihm der heiße Wind zubläst. »Beschnitten.«Es wird Ärger geben; Antiochus hat den Brauch vorerst verboten. Ein Rom, ein Glauben, ein Brauchtum. Die Welt unter einem und wie eine. Kulturelle Assimilation, nannten sie das.
Der alte Mann ist trotzig. Er schreit den Zenturio an, der zurückbrüllt, dann lacht und nach der jüngeren Frau greift. Der alte Mann stürzt sich schreiend und fluchend auf ihn. Zwei Römer laufen, Schwerter gezückt, herbei, um dem Zenturio beizustehen, und zerhacken den alten Mann beinahe. Die Frauen kreischen. Die Römer umstellen sie. Die jüngere wird von zwei Römern gepackt und halb ausgezogen. Die ältere Frau greift sie mit einem Dolch in der Hand an, aber ein Hieb mit der flachen Klinge eines Römerschwerts zertrümmert ihr den Schädel; sie stürzt hin und bleibt liegen.