»Klingt logisch«, sagte Mavra. »Aber warum Theorien aufstellen? Sind Sie denn nicht dabeigewesen?«
Brazil hüstelte.
»Hm, äh, ja. Aber es — nun, es ist so lange her, daß meine Erinnerungen an diese Zeit praktisch nicht mehr vorhanden sind. Vieles beruht auf Neuentdeckungen. Haben Sie Geduld. Ich lebe schon schrecklich lange. Jedenfalls entschieden die Markovier, daß sie irgendwo einen falschen Weg beschritten hatten. Sie konnten sich nicht damit abfinden, daß das, was sie besaßen, alles war und für alles ein Ende bedeutete, weil es alles Bemühen, allen Fortschritt in ihren Augen witzlos erscheinen ließ. Das konnten sie nicht ertragen. Sie kamen zu dem Schluß, daß sie es verpatzt hatten — und von neuem anfangen mußten. Das dazu gewählte Mittel war eigenartig«, fuhr Brazil fort. »Sie konnten nicht das ganze Universum auslöschen, ohne sich mit zu beseitigen. So schufen sie einen Computergiganten, groß wie ein Planet, einen, der von Hand gesteuert werden mußte. Sie waren große Wesen, die für uns echten Ungeheuern gleichen würden — wie riesengroße, pulsierende, ledrige Menschenherzen, auf sechs langen Tentakeln mit Saugnäpfen stehend. Sie waren jedoch insoweit unsere Vettern, als sie eine auf Kohlenstoff basierende Lebensform darstellten, deren Atmosphäre, wenngleich von der unseren verschieden, dieser so nahekam, daß wir sie atmen könnten. Sie gossen nun eine Kruste über diesen planetengroßen Computer, dieses Großgehirn, und teilten sie in fünfzehnhundertsechzig sechseckige Biosphären auf. Da man eine Kugel nicht mit Sechsecken bedecken kann, teilten sie an den Polen große Gebiete in Mini-Biosphären auf. Das sind Zone Nord und Zone Süd, die beiden Bereiche, wo die Wesen, die sie erfinden wollten, sich bequem versammeln und sich unterhalten, Handel treiben oder sonstwas tun konnten.«
»Wie kamen sie hinein und hinaus?«fragte Marquoz.
»Zone-Tore«, sagte Brazil. »Mitten in jedem Sechseck befindet sich ein Tor — es sieht aus wie ein großes, schwarzes Loch in Rechteckform. Es führt jeden aus dem Sechseck zu der Zone, die dazu gehört. In Zone gibt es viele kleine Tore, die eine Person nach Hause bringen. Aber während man sie in demselben Sinn, in dem Obie seine ganze Welt augenblicklich von einem Punkt zum anderen befördern konnte, als Materiesender betrachten kann, führen sie einen nur von der Heimat zu Zone und wieder zurück. Für allgemeine Beförderung sind sie nicht geeignet, obwohl sie unbelebte Gegenstände befördern können und damit für den Handel taugen.«
»Und sind die Sechsecke abgedichtet?«fragte Yua fasziniert.
»Nein, nein«, sagte Brazil. »Die Barrieren sind aus reiner Energie. Aber davon wissen Sie schon einiges. Ich habe jedenfalls einen Fußmarsch von fast fünftausend Kilometern vor mir, um den Äquator zu erreichen, der Nord und Süd trennt, damit ich zum Schacht der Seelen gelangen kann.«
»Der Schacht der Seelen«, wiederholte Marquoz. »Ein seltsamer Name.«
»Woher ›Schacht‹, weiß ich nicht«, sagte Brazil achselzuckend. »Das mit den ›Seelen‹ stimmt. In allem intelligenten Leben ist tief im Inneren irgend etwas, das man nicht quantifizieren kann, aber es führt einen halben Schritt über die Tiere hinaus. Wir nennen es Seele; darauf begründen sich Religionen, und ich habe Beweise dafür, daß es die Seele gibt.«Er schwieg kurze Zeit.
»Mir ist auf der Schacht-Welt aufgefallen, daß viele Rassen auf der südlichen Halbkugel zumindest von fern vertraut waren«, meinte Mavra schließlich. »Einige, natürlich nicht alle. Es gab große, biberähnliche Wesen, die es meinem damaligen Freund Renard zufolge in der menschlichen Mythologie gegeben hat. Zentauren seien da vorgekommen, sagte er, und geflügelte Pferde, sogar Agitar — ziegenbockähnliche, gottartige Wesen. Ich bin mir nie klargeworden, wieso.«
»Bis Sie hinkamen und man beim letzten der Rasse war, hatte man auch das Ende der Phantasie erreicht«, sagte Brazil. »Deshalb stahl man Ideen von den Tieren und Pflanzen anderer Sechsecke. Es gibt eben viele Ähnlichkeiten. Der Schacht sorgte schon dafür, daß sie sich einigermaßen unterschieden und außerhalb ihrer eigenen Sechsecke nicht fortpflanzen konnten. Das gilt übrigens auch für die meisten Mikroorganismen, so daß es auch keine weitverbreiteten Seuchen gibt.«Wieder blickte er versonnen vor sich hin.
»Der Schacht erkennt Sie«, sagte Mavra nach einiger Zeit. »Warum lassen Sie sich von ihm nicht einfach holen? Warum der lange Weg?«
»Vor allem deshalb, weil ich nicht mit ihm reden kann, bis ich darin stehe. Er hält mich für einen Techniker, also schickt er mich dorthin, wo ich hingehöre — in das menschliche Sechseck. Von da aus muß ich anfangen. Schlimmer noch, die Mächtigen auf der Schacht-Welt, vor allem jene, die Zugang zu ausführlichen Unterlagen haben, wissen das. Sie werden versuchen, mich daran zu hindern, daß ich den Schacht erreiche — und sie wissen, in welchem Sechseck ich bin. Das ist ein Nachteil für mich.«
»Weshalb sollten sie Sie aufhalten wollen?«fragte Yua. »Obie hat gesagt, daß die Schacht-Welt Ihr Eingreifen überstehen wird.«
»Das wird sie, vor allem deshalb, weil sie von einem eigenen Computer aufrechterhalten wird. Aber mein Eingreifen wird eben das ganze zivilisierte Universum auslöschen. Eine oder zwei — vielleicht auch mehrere — Rassen werden überleben, jene, die sich auf natürliche Weise entwickelt haben, statt durch den Schacht. Aber alle übrigen — dahin. Das Universum wird ein ganz schön abgestorbener Ort sein. Ich ziehe also den Stöpsel heraus. Ich repariere die große Maschine — oder vielmehr, ich lasse zu, daß sie sich selbst repariert, und helfe, wo ich kann.«Er sah die anderen an. »Also, wen nehme ich, um dieses Universum neu zum Keimen zu bringen?«
Sie schwiegen. Langsam begriffen alle, einer nach dem anderen, bis auf Yua, die etwas verwirrt wirkte.
»Sie brauchen die Schacht-Welt, um neue Keime auszubringen«, flüsterte Mavra.
Er nickte.
»Das wissen sie auch. Besser als wir. Für sie geht es um die Wahclass="underline" eigenes Überleben oder das der anderen. Sie unterscheiden sich nicht von allen anderen. Sie werden lieber überleben und das Universum hängen lassen wollen. Aber selbst wenn wir dafür einen Ausweg finden — und es gibt einen, aber keinen sicheren —, bleibt die eigentliche Furcht bestehen. Sobald ich im Inneren des Schachtes bin, wissen sie, daß ich jede Veränderung vornehmen kann, die ich will, Veränderungen nicht nur im Universum, sondern auch an der Schacht-Welt selbst. Sie werden nervös sein. Auch wenn ich das letztemal nichts gemacht habe, wissen sie nicht, ob ich diesmal nicht anders handele. Stellen Sie die Dinge einander gegenüber. Sie sind eine praktisch und logisch denkende Führerin. Würden Sie zulassen, daß ich in den Schacht gehe, wenn Sie, sobald Sie mich daran hindern, dafür sorgen können, daß alles beim alten bleibt? Ich glaube nicht.«
»Aber Sie sind unsterblich«, stellte Mavra fest. »Das müßten sie wissen. Sie können Sie nicht ewig festhalten.«
»Das brauchen sie auch gar nicht, aber sie wären bereit dazu«, erwiderte er. »Denken Sie an das, was man mit Ihnen gemacht hat. Das könnte man mit mir auch tun. Mich in ein Tier oder in irgendeine Pflanze verwandeln. Mich drogenbetäubt in einer Zelle festhalten, aus der ich nicht heraus kann. Gewiß, irgendwann könnte ich vielleicht ausbrechen, aber das würde Jahre dauern — Hunderte, vielleicht Tausende von Jahren. Zu spät, als daß es unserem Vorhaben noch nützen würde. Nein, es gab schon das letztemal Schuftigkeit genug, als sie nicht wußten, wer ich war, sondern nur, daß wir in den Schacht gehen würden. Diesmal wird es die Hölle werden.«