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Sie nickte.

»Na, hol mich der Henker. Gott ist sogar zu den Sündern gut«, murmelte er vor sich hin. Dann sah er sie an. »Wissen Sie, ich habe in meinem langen Leben viele Leute umgebracht, die alle entweder mich umbringen wollten oder den Tod doch sehr verdient hatten. Ich habe viele Leute hereingelegt, die es verdienten, und wissen Sie, wenn ich alles noch einmal vor mir hätte, würde ich es genauso machen. Mein Gewissen wird nur von einer einzigen Person belastet, und ich bin das nie losgeworden, obwohl ich keine andere Wahl hatte, was noch ärgerlicher ist. Sie sagen praktisch, daß mir Absolution erteilt worden ist. Diese eine Person lebt und hat ein volles Leben gehabt, länger gelebt als jeder andere — Brazil und mich vielleicht ausgenommen. Sie sagen mir, daß ich das Richtige getan habe, daß mir jetzt verziehen worden ist.«

Sie sah ihn an, ein wenig verwirrt über seine Reaktion. Das hatte sie von dem Mann ganz und gar nicht erwartet. Sie hätte beinahe schwören mögen, daß Tränen in seinen Augen standen.

»Ich habe Ihnen nicht verziehen, Ortega«, sagte sie ruhig. »Sie sind der einzige, den ich jederzeit mit Vergnügen umbringen könnte — wenn ich Sie nicht brauchte.«

Er lachte leise.

»Sie sind wirklich Mavra Tschang?«Er schien die Bestätigung zu brauchen, so, als könne er die Wahrheit nicht akzeptieren. »Hol mich der Henker!«Plötzlich wurde seine Miene hart. »Hören Sie, wenn Sie wirklich Mavra Tschang sind, schulden Sie mir etwas.«

Sie riß entgeistert die Augen auf.

»Ich Ihnen

Er nickte.

»Wenn ich damals nicht getan hätte, was ich tat, lägen Sie da draußen jetzt irgendwo herum, seit siebenhundert Jahren tot, tot und begraben. Tot, ohne je wieder von dieser scheußlichen Welt fortgekommen zu sein, ohne die Sterne je wiedergesehen zu haben. Ich habe Sie gerettet, und dafür sind Sie mir etwas schuldig. Ich habe Sie gerettet, und das bedeutet mir alles.«Seine Augen glühten. »Wie ich Sie beneide. Siebenhundert Jahre dort draußen. Seit langer Zeit vor Ihrer Geburt bin ich aus diesem verdammten Loch nicht mehr herausgekommen. Wissen Sie, was das bedeutet? Ich bin auch Kapitän gewesen, wissen Sie.«

Sie wußte, was es bedeutete, obwohl es an den Nerven zerrte, das auch bei Ortega noch vorzufinden. Sie versuchte, es sich vorzustellen.

Er nickte und lächelte schwach.

»Ich sehe, Sie verstehen mich. Ich bin ein Gefangener, schlimmer, als Sie das jemals gewesen sind. Alle diese Macht hier ist bedeutungslos. Ablenkung für einen alten Mann in einer künstlich beleuchteten Gefängniszelle, der seit fast tausend Jahren außer in Büchern keinen Stern oder Grashalm mehr gesehen hat.«Er seufzte. »Wissen Sie, hier und dort tauchen alte Erinnerungen auf. Ich erinnere mich daran, als Nate das letztemal hier war. Er sagte, das einzige, was er wolle, sei der Tod — er habe das Leben satt. Er habe alles getan, sei alles gewesen, hätte zu lange gelebt. Ich hielt ihn für verrückt. Der einzige Unterschied zwischen dem damaligen Brazil und mir heute ist der, daß er länger gebraucht hat dazu. Ihnen wird es nicht anders ergehen, auch wenn Sie vielleicht nicht so lange leben. Sie haben wohl schon die ersten Anfänge der Langeweile verspürt, glaube ich. Sie haben es länger ausgehalten als ich, weil Sie unterwegs sein konnten, weil Sie die Sterne, die Bäume, helle Wüstenfarben und blauen Himmel sehen konnten. Selbst in Glathriel hatten Sie das. Stellen Sie sich vor, die letzten siebenhundert Jahre eingesperrt gewesen zu sein.«

Sie schüttelte staunend den Kopf.

»Wenn Sie so stark empfinden, warum gehen Sie mit mir nicht durch dieses Tor? Gehen Sie nach Ulik zurück und sehen Sie die Wüsten und die Sterne.«

Er lachte kurz auf.

»Wollen Sie wissen, warum ich das nicht mache? Glauben Sie, ich hätte nicht darüber nachgedacht, immer wieder, in jeder freien Stunde? Jedesmal, wenn ich spüre, wie die Wände mich erdrücken, wenn ich meine verehrten Kollegen erfrischt und ausgeruht von Ausflügen nach Hause zurückkommen sehe? Wollen Sie es wissen? Ich habe Angst. Ich, Serge Ortega. Ich stelle mich jedem, mit Schwertern oder Schußwaffen oder was es auch sei — selbst mit dem Verstand. Ich stürme sogar die Hölle — aber auf Einladung gehe ich da nicht hin.«

Sie hörte ihm zu und entdeckte erstaunt, daß fast der ganze Haß und Ärger über ihn verschwunden waren, verdrängt von leichtem, wenn auch ganz echtem Mitleid für einen Mann, der sein eigenes Gefängnis errichtet hatte und daran leiden mußte.

»Wegen der Hölle brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen, Ortega«, sagte sie leise. »Das ist die Hölle. Sie haben sie geschaffen. Sie haben sie aus Ihren eigenen Ängsten und Ihrem Schuldbewußtsein aufgebaut. Sie leben ständig in ihr, für immer, um so mehr Hölle, weil Sie wissen, daß Sie gehen können. Sie tun mir leid, Ortega, wirklich.«Sie wandte sich der Dunkelheit zu. »Ich glaube, jetzt bin ich bereit, den Gang zu tun, den ich ohne Ihre Eingriffe schon vor siebenhundert Jahren hätte tun sollen. Der Kreis hat sich geschlossen, Ortega. Werden Sie uns helfen? Sie sind diesen Leuten nichts schuldig. Jetzt nicht mehr. Bitte, helfen Sie — und sei es nur um meinetwillen.«

Er lächelte.

»Ich werde tun, was ich kann. Aber was für mich interessant ist, wird für den Rest der Rassen hier die Hölle sein. Das ist Ihnen klar. Es könnte sein, daß ich nicht in der Lage bin, den Dingen Einhalt zu gebieten.«

»Dann tun Sie, was Sie können«, erwiderte sie. »Wenn Sie es nicht tun, dann haben wir beide eine Verabredung, hier in Zone, das schwöre ich Ihnen.«

»Ich hoffe jedenfalls, daß der Tag nicht kommt, an dem ich zwischen Ihnen und mir wählen muß«, murmelte er. »Ich — ich weiß nicht, was ich nehmen würde.«

»Ich komme wieder, Ortega, so oder so, verlassen Sie sich drauf!«fauchte sie und lief in die Dunkelheit des Schacht-Tores hinein.

Serge Ortega saß da und schwankte auf seinen Schlangenwindungen vor und zurück, lange Zeit in die Schwärze hineinstarrend.

Hakazit

Marquoz erwachte.

Er stöhnte, reckte sich und betrachtete neugierig sein neues Land. Es bot keinen erhebenden Anblick; er befand sich auf einem Hochplateau und konnte viele Kilometer weit sehen. Das Land war schroff, umringt von hochragenden Vulkangipfeln, aus denen hier und dort Rauch quoll. Darunter erstreckte sich eine große Ebene, übersät mit schwarzen Felsen und Steinbrocken und dicken Schichten Vulkanasche. Hier und da ragten kleine Kohlekegel auf, die nicht beruhigend alt oder erloschen aussahen.

Es gab Gras, ja; kränklichgelbes Gras, das hoch und wild wuchs und im Wind schwankte, der um die Vulkansenke tobte. In der Ferne konnte er eine riesige, blaugrüne Wasserfläche sehen, die ein Meer sein mußte. Nur in der Nähe des großen Ozeans gab es Flächen von dunklem Grün, die auf Kultivierung hindeuteten.

Es war eine aktive Landschaft. Da waren Flüsse, viele Flüsse, alle ewig jung, dank dem offensichtlich anhaltenden Vulkanismus. Die Quelle für das viele Wasser war offenkundig; die vorherrschenden Winde bliesen vom Meer herein, wurden eingefangen und an den hohen Vulkanen hinaufgetrieben, viele davon mit Schneekappen, wo sie abkühlten und Regenfälle hervorriefen, die hier im Hinterland herabflossen.

Er bestaunte die Weite seines Blicks; alles sah unfaßbar scharf und klar aus, und er konnte in größerer Entfernung, als er in seinem alten Körper überhaupt hätte sehen können, einzelne Bäume unterscheiden. Sein Gehör schien normal zu sein; er hörte das Rauschen des Windes und tropfendes Wasser nicht anders als früher.

Früher? Es gab Straßen da unten, die nicht schlecht aussahen, aber wenig Anzeichen für Behausungen. Lagen alle Leute im Winterschlaf, er ausgenommen, oder lebten sie einfach alle an der Küste? Tierisch, pflanzlich oder mineralisch?

Nun, jetzt war er auf jeden Fall einer von ihnen. Er wußte das, fühlte sich fremd und ›massiv‹. Er wußte auch, daß er eine Vorstellung von der Rasse gewinnen konnte, wenn er sich selbst betrachtete, aber er zögerte, ein wenig ängstlich dem Gegenüber, das er finden mochte.