Dex Trumball irritierte Jamie am meisten. Dex mit seinem großspurigen, attraktiven Grinsen und seinen geschliffenen Manieren. Ein junger Mann aus reicher Familie, der in seinem ganzen Leben noch nie um etwas hatte kämpfen müssen. Sein Vater war eine treibende Kraft bei der Finanzierung dieser Expedition gewesen, aber Dex wäre ohnehin ins Team aufgenommen worden, weil er ein so guter Geophsyiker war. Immerhin – abgeschlossenes Studium in Yale, Promotion in Berkeley, dazu brillante Arbeit über die lunaren Mascons.
Die mehrmonatige Reise zum Mars verlief weitgehend reibungslos, bis auf einen Abbruch aller Verbindungen, als sich die Hauptantenne in Reaktion auf einen fehlerhaften Computerbefehl von der Erde wegdrehte. Deschurowa und Rodriguez versuchten einen ganzen Tag lang mit jedem Programmierungstrick, den sie kannten, die Antenne zu entriegeln, aber vergeblich. Schließlich mussten die Russin und Craig in ihre Anzüge steigen und eine EVA unternehmen, um das Steuersystem der Antenne von Hand auszubauen. Anschließend programmierten sie es im Raumschiff, gingen dann erneut hinaus und setzten es wieder ein.
Nichts und niemand hatte einen Schaden davongetragen, aber alle waren nervös, bis die Verbindung mit dem Kontrollzentrum in Tarawa wieder stand.
Jamie fiel allerdings auf, dass Trudy Hall aschgrau vor Anspannung war. Als er sich bei Vijay nach ihr erkundigte, erklärte ihm Shektar, sie habe der Biologin ein Beruhigungsmittel gegeben.
Das einzige andere Vorkommnis war eine Sonneneruption, in deren Folge sie dreiundfünfzig Stunden im abgeschirmten Sturmkeller des Raumfahrzeugs verbringen mussten. Trudy hatte vor Angst hyperventiliert, aber ansonsten überstanden es alle unversehrt. Trudy bekam eine Menge spöttische Bemerkungen darüber zu hören, dass sie sich eine Kotztüte vors Gesicht halten und fast zwanzig Minuten hineinatmen musste.
Dann hörte Jamie eines Nachts, als er sich zum Schlafengehen fertig machte – sie hatten etwa die Hälfte der Strecke zum Mars geschafft –, gedämpftes Lachen aus dem Abteil nebenan. Dex' Kabine.
»Was hat er denn jemals getan?«, kam Trumballs Stimme durch die dünne Trennwand zwischen ihren Abteilen. Sie klang anklagend, fast zornig. »Ich meine, worin besteht denn eigentlich sein Beitrag auf dem Gebiet der Geologie?«
Die Stimme, die ihm antwortete, war so leise und gedämpft, dass Jamie nicht mitbekam, was sie sagte. Er konnte auch nicht erkennen, wer da sprach. Es klang wie die Stimme einer Frau, fand er.
»Ich will dir sagen, was für wissenschaftliche Beiträge unser großen Indianerhäuptling geleistet hat«, fuhr Trumball fort, laut und deutlich. »Gar keine. Null. Nada.«
Er spricht von mir, erkannte Jamie.
Die Frau sagte etwas; vom Ton her klang es wie ein Einwand.
»Oh ja, klar, er hat die erste Expedition dazu gebracht, zum Grand Canyon zu fahren, und da haben sie die Flechte gefunden. Aber die Entdeckung hat nicht er gemacht, das waren die Biologinnen. Mag ja sein, dass er eine von ihnen geheiratet hat, aber nicht mal das hat er richtig hingekriegt.«
Die Frau sprach wieder, noch leiser.
»Wenn er keine Rothaut wäre, hätten sie ihn nicht zum Missionsleiter ernannt, das kannst du mir glauben«, beharrte Trumball. »Seine wissenschaftlichen Leistungen sind gleich null. Das war eine rein politische Entscheidung, mehr nicht.«
Trumball fuhr noch eine Weile fort, aber leiser; seine Worte waren jetzt zu gedämpft, als dass Jamie sie verstehen konnte.
Jamie sank auf seine Liege nieder. Er fühlte sich leer, ausgelaugt, besiegt. Trumball hat Recht, erkannte er. Meine fachlichen Leistungen waren nicht gerade überragend. Ich bin nur durch pures Glück ins Team der ersten Expedition gekommen, und jetzt bin ich Missionsleiter, weil ich alle Hebel in Bewegung gesetzt habe.
Er versuchte zu schlafen, aber es gelang ihm nicht. Denken die anderen genauso über mich? Dulden sie mich nur, weil ich bei der ersten Expedition dabei war? Oder weil ich älter bin als sie alle?
Dann hörte er die Frau kichern. Dex brachte sie mit einem
»Pst!« zum Schweigen. Jamie bemühte sich, nicht zu lauschen, drehte sich auf seiner Liege um und drückte sich das schmale Plastikkissen auf den Kopf. Eine Weile blieb es still. Dann ein leises Stöhnen, fast ein Schluchzen. Jamie schloss die Augen ganz fest und versuchte durch reine Willenskraft, auch seine Ohren zu verschließen. Sie stöhnte erneut, diesmal lauter. So ging es eine Stunde lang weiter, wie es ihm vorkam.
Jamie konnte nicht mit Sicherheit sagen, wer die Frau bei Dex war, aber es klang für ihn, als wäre es Vijay.
Es dauerte mehrere Tage, bis er ihr wieder in die Augen schauen konnte. Bis er überhaupt wieder einen der anderen ansehen konnte, ohne sich zu fragen, was in dessen Kopf vorging.
Trumball konnte er jedoch gar nicht mehr ansehen. Bis zu dem Abend, an dem der Konflikt zwischen Dex und ihm zu einem offenen Streit eskalierte.
Fuchida und Hall hielten den übrigen Wissenschaftlern einen Vortrag über die neuesten Erkenntnisse, die man auf der Erde gewonnen hatte. Alle drängten sich auf den Bänken, die den langen Tisch in der Kombüse säumten. Auf den Bildschirmen am gekrümmten Schott waren Mikroaufnahmen der von der ersten Expedition zur Erde mitgebrachten marsianischen Flechtenproben zu sehen.
»Wir wussten schon vor dem Start«, sagte Trudy Hall, die am Kopfende des Tisches stand, »dass die Marsflechte in mehrerer Hinsicht erstaunliche Ähnlichkeit mit irdischen Flechten hat, sich in manchen Punkten aber auch eindeutig von ihnen unterscheidet.
Wie irdische Flechten besteht sie aus Kolonien von Algen-und Pilzgewächsen, die in einer symbiotischen Beziehung zusammenleben, die …«
»Ohne das heilige Sakrament der Ehe?«, witzelte Trumball.
Unbeirrt erwiderte Halclass="underline" »Sie reproduzieren sich ungeschlechtlich.«
»Wie frustrierend.«
»Woher willst du das wissen, wenn du's noch nie versucht hast?«
Jamie stützte die Unterarme auf den Tisch und bat leise:
»Kommen wir bitte zum Thema zurück.«
Hall nickte und fuhr fort: »Das Interessanteste ist, dass sich in ihren Zellkernen Doppelstrang-Moleküle finden, die bemerkenswerte Ähnlichkeit mit unserer DNS haben.«
»Ihre genetische Programmierung«, übernahm Fuchida, während er aufstand und sich neben Hall stellte, »scheint unserem genetischen Code sehr ähnlich zu sein.«
Er zeigte auf die Computergrafik einer gewundenen Doppelhelix. »Ihre Gene setzen sich aus vier Basenpaaren zusammen, genau wie unsere.«
Jamie glaubte, ein leises Zittern in Fuchidas Stimme zu hören. Aufregung, die er zu unterdrücken versuchte?
»Du meinst, wir sind mit ihnen verwandt?«, fragte Shektar mit großen Augen und in ehrfürchtigem Ton.
»Nicht unbedingt«, antwortete Fuchida und hob ganz leicht die Hand. »Ihre Basenpaare sind anders zusammengesetzt. Unsere bestehen aus Adenin, Zytosin, Guanin und Thymin. Die marsianischen Basen sind erstaunlich ähnlich in ihrer Funktion, aber von anderer chemischer Zusammensetzung. Sie haben bis jetzt noch keine formellen Namen bekommen. Man nennt sie einfach Mars eins, Mars zwei, Mars drei und …«
»Lass mich raten«, unterbrach ihn Trumball. »Mars vier?«
Fuchida machte eine winzige Verbeugung. »Ja, Mars vier.«
»Na so was, is ja beinahe poetisch«, murmelte Possum Craig.
Während Fuchida und Hall abwechselnd zeigten, wie die marsianische DNS arbeitete, begannen Jamies Gedanken abzuschweifen. Dasselbe System zur Weitergabe der genetischen Informationen von einer Generation zur nächsten, aber eine andere chemische Struktur. Sind wir verwandt?
Könnte das irdische Leben auf dem Mars entstanden sein?
Oder umgekehrt?
Die anderen diskutierten bereits über denselben Punkt, stellte er fest.
»Is garantiert vom Mars zur Erde gekommen«, beharrte Craig störrisch. »Andersrum geht's nich.«