Jetzt streifte die ferne Sonne fast schon den unregelmä
ßigen Horizont, ein starres, warnendes rotes Auge an einem glühenden, kupferfarbenen Himmel. Jamie musste in dem schwerfälligen Raumanzug den ganzen Körper drehen, um in die andere Richtung zu schauen. Dort war der Himmel dunkel, und ein paar Sterne glänzten bereits hell. Die Erde war nun ein Abendstern, wie er wusste, aber er hatte keine Zeit, sie zu suchen oder auf die Polarlichter zu warten.
Als die Schatten der Abenddämmerung über die Felswände auf sie zukrochen, zogen sie ein Buckyball.Seil von der Trommel der Winde, die aus der Nase ihres Rovers ragte, zu einem Befestigungshaken am Heck des alten Gefährts, dann gingen sie nacheinander in ihr eigenes Fahrzeug zurück. Sie brauchten eine weitere halbe Stunde, um den Staub abzusaugen, obwohl keiner von ihnen aus seinem Anzug stieg.
Deschurowa schob das Visier hoch und stapfte zum Cockpit. Trudy Hall saß auf dem rechten Sitz. In ihrem Overall wirkte sie klein, beinahe elfenhaft.
Stacy warf einen Blick auf die Instrumente und startete die Radmotoren. Jamie und Dex standen hinter den beiden Frauen. Beide Männer hatten ihre Visiere hochgeschoben und die Handschuhe ausgezogen.
»Bist du sicher, dass die Räder im Leerlauf sind?«, fragte Trumball.
Jamie nickte in seinem Helm. »Alle Räder mit Antrieb werden auf Leerlauf gestellt, sobald die Motoren aus sind, außer wenn man absichtlich einen Gang einlegt.«
»Oder sie mit ›Parken‹ arretiert«, fügte Dex hinzu.
»Sie sind nicht arretiert«, beharrte Jamie. »Ich war dabei: Wir haben die Räder nicht arretiert, als wir in den Staub gefallen sind. Ganz im Gegenteil, wir haben versucht, rückwärts aus dem Krater zu fahren.«
»Dann sind sie vielleicht noch im Rückwärtsgang.«
»Sie sind im Leerlauf«, sagte Jamie fest.
Trumballs Blick glitt von Jamie zu Deschurowa, die mit dem Rücken zu ihnen auf dem Fahrersitz saß. »Ich wünschte jedenfalls, wir hätten die Radeinstellungen überprüfen können«, brummte er.
»Geht nicht«, sagte Stacy von ihrem Sitz aus. »Dazu hätten wir eine Stromleitung zu dem alten Rover legen und das elektrische System hochfahren müssen.«
»Vielleicht sollten wir das tun«, meinte Trumball.
»Probieren wir erst mal, ob wir uns die Mühe sparen und ihn so rausziehen können«, schlug Jamie vor.
»Ich spule das Seil auf«, sagte Deschurowa leise und startete die Fahrmotoren. Jamie konnte ihren Kopf nicht sehen, nur das Oberteil ihres glänzenden weißen Helms.
»Ganz vorsichtig jetzt«, sagte Trumball.
»Halt den Mund, Dex!«, fauchte sie. »Ich weiß, was ich tue.«
Dex verstummte. Neben ihm starrte Jamie geradeaus auf das gekrümmte Heck des alten Rovers, das zehn Meter vor der Windschutzscheibe aufragte.
Die Motoren heulten auf, als Deschurowa langsam mit dem Rover zurücksetzte. Das Seil spannte sich.
»Komm schon, komm schon, mein Süßer«, redete Deschurowa dem alten Rover sanft zu, so leise, dass Jamie es kaum hören konnte. Dann verfiel sie ins Russische, ein sanftes, zärtliches Gurren.
Jamie, der hinter Trudys Sitz stand, staunte über die kühle, freundliche, beinahe mütterliche Sanftheit von Stacys eindringlichem Geflüster. Ist das dieselbe Frau, die noch vor ein paar Stunden wie ein Motorradrocker über einen Schraubenzieher geflucht hat?
Der Rover schwankte leicht, und Jamie hielt sich an der Rücklehne von Halls Sitz fest. Die Fahrmotoren heulten lauter. Jamie fand, dass es verbrannt roch.
»Komm schon, Baby«, gurrte Deschurowa.
Trumball sagte leise: »Er rührt sich nicht …«
Der Rover schaukelte erneut, und Jamie streckte die freie Hand aus, um sich an Trumball festzuhalten. Dex grapschte unbeholfen nach Jamies Arm, kippte in seinem Anzug nach hinten und wäre beinahe umgefallen.
»Da kommt er!«, rief Deschurowa.
Das abgerundete Ende des alten Rovers rollte in Zeitlupe auf sie zu, wurde größer und größer.
»Festhalten!«
Das Heck das alten Fahrzeugs prallte so heftig auf die Windentrommel an der Nase ihres Rovers, dass Jamie gegen das hintere Schott des Cockpits taumelte. Beide Fahrzeuge blieben stehen.
Einen langen Moment sagte keiner von ihnen ein Wort.
Dann kicherte Trudy Hall und erklärte: »Schleudertrauma!
Wo ist der nächste Anwalt?«
Sie lachten alle zittrig.
»Die Räder des alten Vogels waren wohl doch im Leerlauf«, gab Trumball zu.
»Ja, scheint mir auch so«, sagte Deschurowa.
Jamie sah, dass sie die Räder ihres Rovers in der Parkstellung arretierte, bevor sie sich vom Fahrersitz hochstemmte.
»Ich muss mal«, verkündete sie fröhlich.
Beim Abendessen überlegten sie, wie sie den alten Rover am besten zum Rand des Canyons hinaufschleppen konnten. Die beiden Frauen saßen wie üblich auf der einen unteren Liege, Jamie und Trumball auf der anderen.
»Warum nehmen wir ihn nicht gleich mit zur Basis?«, drängte Trumball.
»Würde ein Loch in unsere Treibstoffreserve reißen«, sagte Deschurowa und sah Jamie über den Klapptisch hinweg an.
»Aber nur ein kleines«, entgegnete Trumball.
Jamie sagte: »Sofern es um die Sicherheit geht, ist es deine Entscheidung, Stacy. Ich muss genau wissen, wie viel von unserem Treibstoff fürs Abschleppen draufgehen würde.«
»Ich kann dir eine Schätzung geben, aber wie hoch unser Verbrauch mit dem Ding im Schlepptau genau wäre, weiß ich nicht.«
»Dann eben eine möglichst exakte Schätzung«, sagte Jamie.
»Früher oder später werden wir den Rover ja doch in der Basis haben wollen«, fuhr Trumball fort. »Also können wir ihn auch gleich mitnehmen.«
»Falls wir's können«, sagte Jamie.
»Klar. Aber ich gehe jede Wette ein, dass wir das ohne große Probleme schaffen.«
»Wir werden sehen.«
»Ja, Daddy«, spöttelte Dex.
Nach dem Abendessen räumten sie den Tisch weg und klappten die oberen Liegen herunter. Trumball begab sich in den Waschraum, und die beiden Frauen gingen zusammen ins Cockpit. Jamie hockte sich im Schneidersitz auf seine Liege, klappte seinen Laptop auf und setzte sich mit der Basis in Verbindung. Rodriguez war am Kommunikationspult.
»Hast du das Bildmaterial gekriegt, das ich dir gestern Abend geschickt habe?«, fragte er mit einem besorgten Ausdruck in dem fleischigen Gesicht.
»Ja, ich hatte nur noch keine Gelegenheit, es mir anzuschauen.«
»Gibt nicht viel zu sehen. Der Schwebegleiter eignet sich nicht so gut für die Art Daten, die du haben wollest.«
Jamie zuckte die Achseln. »Was anderes haben wir im Moment aber nicht.«
»Ja, das stimmt.«
Er ging mit Rodriguez den Tagesbericht durch. Possum Craig hatte das Bohrgerät wieder zum Laufen gebracht. Fuchida plante seine Exkursion zum Olympus Mons. Rodriguez selbst begann mit der Montage des bemannten Raketenflugzeugs, das ihn und den Biologen zum Gipfel des höchsten Berges im Sonnensystem bringen würde.
Jamie hörte zu, sah sich die Bestandsverzeichnisse an, die über seinen Bildschirm flimmerten, und wartete geduldig, bis er sich schließlich fragen hörte: »Und was hat Shektar gemacht?«
»Vijay? Die kümmert sich um Fuchidas Garten und um die Tierchen, die Possum mit seinem Bohrer raufholt. Willst du sie sprechen?«
»Klar. Ja.«
Trumball kam vom Waschraum zurück und beugte sich tief genug herunter, um Jamie anzugrinsen. »Bleib nicht zu lange auf, Chief. Großer Tag morgen.«
»Ja, ja, schon gut«, sagte Jamie. Er griff nach dem Headset, das zum Laptop gehörte, steckte sich den Stöpsel ins Ohr und zog den Mikrofonarm herunter, bis das Stiftmikro beinahe seine Lippen berührte.
Als Trumball sich auf die obere Liege schwang, wich Rodriguez' Gesicht auf dem Bildschirm dem von Vijay Shektar.