»Mach dir keine …«
»Ich bin hier, Mitsuo«, sagte Trudy Hall und beugte sich zwischen Deschurowa und Vijay durch. »Was gibt's?«
»Siderophile Organismen!«, rief Fuchida aufgeregt. »In der Caldera leben eisenfressende Bakterien.«
»Hast du Proben genommen?«
»Ja, natürlich.«
Jamie trat zurück, als die beiden Biologen miteinander plauderten. Fuchida wäre um ein Haar ums Leben gekommen, aber wichtig ist ihm nur, dass er einen neuen Organismus gefunden hat. Vielleicht hat er Recht, gestand Jamie sich insgeheim lächelnd ein.
BALLONS
Bevor die Forscher auf dem Mars landeten, zu einem Zeitpunkt, als sie noch im Orbit waren und mit großen Augen auf die rostige, abgenutzte Unermesslichkeit des Roten Planeten hinabschauten, setzten sie die Ballons aus.
Ihr Versorgungsfahrzeug, das ebenfalls um den Mars kreiste, warf sechs weinkistengroße Kapseln ab und zündete dann deren Bremsraketen. Sie tauchten flammend in die dünne Marsatmosphäre ein, wo sie jeweils ein Dutzend Ballons freisetzten. Die Ballons waren grandios simpel, kaum mehr als lange, schmale Schläuche aus außerordentlich dünnem, aber zähem Mylar, die sich automatisch mit Wasserstoffgas aufbliesen, als sie die richtige Höhe erreichten, und dann wie phantastische, riesige weiße Zigaretten über der Landschaft schwebten.
Unter jedem langen, schmalen Ballon baumelte eine
›Schlange‹, eine biegsame, dünne Metallröhre, die Sensoren, ein Funkgerät, Batterien und eine Heizung zum Schutz gegen das eisige Wetter enthielt.
Tagsüber trieben die Ballons hoch oben in der Marsatmosphäre und prüften die Temperatur (niedrig), den Druck (niedriger), die Feuchtigkeit (noch niedriger) und die chemische Zusammensetzung der Luft. Die Höhe, in der jeder einzelne Ballon schwebte, wurde von der Menge des Wasserstoffs in seinem schlanken, zigarettenförmigen Rumpf bestimmt. Die Tageswinde trugen sie wie Löwenzahnfederkronen über die rote Landschaft.
Nachts, wenn die Temperaturen in solche Tiefen stürzten, dass selbst der Wasserstoff in den Ballons zu kondensieren begann, sanken sie alle wie ein Chor von Ballerinas, die müde die Köpfe hängen ließen, zur Oberfläche hinunter.
Oftmals berührten die Instrumenten-›Schlangen‹ tatsächlich den Boden und übertrugen pflichtgetreu Daten über die nächtlichen Bedingungen an der Oberfläche, während die Ballons in den dunklen Winden tanzten; sie hatten gerade so viel Auftrieb, dass sie ungefährdet über dem mit Geröll übersäten Boden schwebten.
Ähnliche Ballons waren bei der ersten Marsexpedition mit großem Erfolg eingesetzt worden, obwohl viele von ihnen irgendwann an Bergflanken hängen blieben oder aus unbekannten Gründen verschwanden. Die meisten trieben jedoch wochenlang anmutig über das Antlitz des Mars, sanken jede Nacht langsam hinab und stiegen wieder hoch, wenn das morgendliche Sonnenlicht ihre wasserstoffgefüllten Hüllen erwärmte, flogen still und mühelos dahin, lebten mit dem marsianischen Tag- und-Nacht-Zyklus und erstatteten brav Bericht über die Umweltbedingungen, die von einem Pol zum anderen herrschten.
MORGEN: SOL 50
Jamie war nicht überrascht, als er sah, dass sein Großvater im Felsendorf auf ihn wartete.
Er erinnerte sich daran, wie er vom Rand des Canyons abgestiegen war und dann, kaum dass er bei der Nische in der Felswand angelangt war, langsam und bedächtig seinen Raumanzug ausgezogen hatte. Ihm war warm, und er fühlte sich sicher, als er, nur mit seinem Overall bekleidet, durch die stillen Ruinen spazierte.
Großvater Al saß im hellen Sonnenschein auf einer Holzbank, an die Adobewand eines der Gebäude gelehnt. Seinen breitkrempigen Hut hatte er tief in die Stirn gezogen.
»Schläfst du, Großvater?«, fragte Jamie leise. Er war wieder neun Jahre alt, und er konnte nicht sagen, ob er sich auf dem Mars oder in dem alten Pueblo befand, wo Al um Teppiche und Töpferwaren feilschte, die er in seinem Laden in Santa Fe verkaufen wollte.
»Nein, ich schlafe nicht, Jamie. Ich habe auf dich gewartet.«
»Hier bin ich.«
Al sah seinen Enkel an und lächelte. »Das ist gut.«
Jamie breitete die Arme aus. »Wo sind sie alle? Das Dorf ist leer.«
»Sie sind fortgegangen.«
»Wohin denn?«
»Das weiß ich nicht. Niemand weiß es. Du musst es herausfinden, Enkel.«
»Aber wo könnten sie sein?«
»Auf der Suche nach ihrer Bestimmung«, sagte Al. »Nach ihrem eigenen, richtigen Weg.«
Jamie setzte sich neben seinen Großvater auf die Bank. Die Sonne war warm und spendete ihm Kraft.
»Erzähl mir von ihnen, Großvater. Erzähl mir von den Leuten, die hier gelebt haben.«
Al lachte, ein leises, fröhliches Glucksen. »Nein. Ich kann es dir nicht erzählen, Jamie-Boy. Du musst es mir erzählen.«
Jamie war verwirrt. »Aber ich weiß es nicht.«
»Dann wirst du's rausfinden müssen, mein Sohn.«
Jamie schlug die Augen auf. Diesmal verblasste sein Traum ausnahmsweise nicht. Er war so lebendig wie eine echte Erinnerung.
Er stieß das dünne Laken weg, das ihn bedeckte, und stand auf. Nach der langen Nacht, die sie alle hinter sich hatten, hätte er eigentlich müde und ausgelaugt sein müssen. Aber er war wach und voll da, konnte es kaum erwarten, den Tag zu beginnen.
Er trat rasch an seinen Schreibtisch und schaltete seinen Laptop ein, dann öffnete er den Kommunikationskanal zu Rodriguez und Fuchida. Mit einem Blick auf die Schreibtischuhr sah er, dass es sechs Uhr dreiunddreißig war. Er zögerte jedoch nur einen kurzen Moment, dann rief er die beiden Männer auf dem Olympus Mons.
Wie er vermutet hatte, waren sie beide wach. Auf dem Bildschirm von Jamies Laptop saßen sie Seite an Seite im Cockpit des Flugzeugs.
»Guten Morgen«, sagte er. »Gut geschlafen?«
»Außerordentlich gut«, antwortete Fuchida.
»Das Cockpit hier sah aus wie das beste Hotel der Welt, als wir heute Nacht eingestiegen sind«, sagte Rodriguez.
Jamie nickte. »Ja, kann ich mir vorstellen.«
Rodriguez erstattete ihm einen kurzen, knappen Morgenbericht. Fuchida lobte den Astronauten überschwänglich, weil er seinen Anzug von der verdorbenen Luft gereinigt und die elektrischen Anschlüsse wieder befestigt hatte, die sich bei dem Aufprall in seinem Tornistergerät gelöst hatten.
»Mein Anzuggebläse summt brav vor sich hin«, sagte er.
»Aber ich fürchte, ich werde mit meinem schlimmen Knöchel nicht viel Nützliches tun können.«
Sie hatten die Knöchelverletzung in der vergangenen Nacht diskutiert, sobald Fuchida das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Vijay vermutete, dass es eine Verstauchung war, wollte den Biologen jedoch so rasch wie möglich wieder in der Kuppel haben, um ihn zu röntgen.
Jamie hatte entschieden, dass Rodriguez so viele der geplanten Arbeiten wie möglich allein ausführen sollte, bevor sie zurückflogen. Ihr Plan sah vor, dass sie einen weiteren halben Tag auf dem Gipfel des Berges verbrachten und dann am frühen Nachmittag den Rückflug zur Kuppel antraten. Sie sollten also lange vor Sonnenuntergang wieder bei der Basis landen.
»Ich bin froh, wenn ich aus diesem Anzug herauskomme«, gestand Fuchida.
»Wir werden nicht besonders gut riechen«, fügte Rodriguez hinzu.
Jamie ertappte sich dabei, dass er angestrengt auf den kleinen Bildschirm seines Laptops spähte und durch ihre Sichtscheiben zu schauen versuchte. Was natürlich unmöglich war. Aber sie klangen beide ziemlich munter.
Die Ängste und Gefahren der vergangenen Nacht waren fort, das Tageslicht und die relative Sicherheit des Flugzeugs verliehen ihnen neuen Mut.
Rodriguez sagte: »Wir haben beschlossen, dass ich noch mal in die Caldera runtersteige und die Bake, die wir dort auf dem Sims gelassen haben, richtig aufstelle.«
»Damit wir anständige Daten von ihr bekommen«, fügte Fuchida hinzu, als befürchtete er, Jamie würde ihre Entscheidung anfechten.