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Am Mittag dieses heißen Junitages geriet die Stadt Cairo, wo der Ohio in den mächtigen Mississippi mündet, den Vater der Ströme, in helle Aufregung. Händler verließen ihre Stände und Geschäfte, Kunden den Barbier, Kinder den Schulhof und Frauen den Herd, um zum Hafen zu eilen. Nichts konnte diesem Menschenstrom standhalten; wer nicht rechtzeitig aus dem Weg trat, wurde einfach mit- oder umgerissen. Erst auf dem Kai machte die bunte, johlende Menge halt, drängte sich dicht an der Wasserfront zusammen und spähte hinaus auf den breiten Fluß, um Näheres zu erkennen. Dorthin, wo der Grund für die ganze Aufregung am nördlichen Horizont zu sehen war: schwarzer Rauch über dem Mississippi.

In zwei dicken fetten Säulen stieg dieser Rauch fast kerzengerade in den azurblauen, von keinem Wölkchen getrübten Himmel, verweigerte standhaft die Auflösung und schien bis in die Unendlichkeit klettern zu wollen. Erst allmählich schälte sich vor den Augen der aufgeregten Menge die Ursache dieser beständig näher kommenden Rauchsäulen heraus: ein riesiges, prachtvolles, hellweißes, im Sonnenlicht flirrendes Gebilde aus Holz und Eisen, über dem bunte Flaggen lustig im Wind flatterten und doch nicht die Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnten, die dem beeindruckenden schwarzen Rauch geschenkt wurde. Er, nicht die Flaggen, war der Vorbote des Ereignisses, dem die Stadt schon den ganzen Tag entgegengefiebert hatte: die Ankunft der beiden gewaltigen Wilcox-Schaufelraddampfer.

In früheren Zeiten, vor zwei Jahren noch, wäre das nicht die große Besonderheit gewesen wie an diesem Sommertag im Jahre 1863. Gewiß, ein großer Mississippi-Steamer brachte immer Leben in die Städte. Aber damals, als die ganz großen Schiffe noch in beträchtlicher Zahl und ungehindert zwischen St. Louis an der Missouri-Mündung und New Orleans am Golf von Mexiko pendelten und Cairo für sie nur eine Durchgangsstation war, bedeutete das Auftauchen eines prächtigen Passagierdampfers nichts Besonderes.

Der Bürgerkrieg hatte dies, wie so vieles, geändert. Die kriegführenden Nord- und Südstaaten hatten viele Schiffe in ihre Kriegsflotten übernommen, sie zu Kanonenbooten, Nachschubtransportern oder schwimmenden Hospitälern umgewandelt. Als dann auch auf dem Mississippi die Kampfhandlungen ausbrachen, kam die Passagierschiffahrt fast völlig zum Erliegen. Viele Reisende wählten aus Angst den Landweg oder blieben lieber gleich zu Hause. Offiziere, Lotsen und einfache Seeleute verspürten häufig keine Lust, vor den Mündungen feindlicher Kanonen entlangschippernd ihren Kopf zu riskieren, und wechselten schneller den Beruf, als man Mississippi oder auch nur Missouri sagen konnte. Die blutigen Gefechte an dem großen Strom machten eine durchgehende Fahrt von St. Louis oder noch weiter oben zum Golf von Mexiko unmöglich.

Inzwischen konnte man wieder bis hinunter zur Staatsgrenze von Louisiana fahren. Ab dann wurde es gefährlich bis unmöglich; auf dem Old Man River zu reisen. Die zurückgedrängten Südstaatler hatten sich in der MississippiStadt Vicksburg verschanzt und verteidigten sich auf Teufel komm raus. Doch hier im Norden hatten sich die Verhältnisse einigermaßen normalisiert. Besonders Cairo war durch das Kriegsgeschehen belebt worden, weil viele Nachschubwaren für die Unionsarmee über den Ohio herangeschafft wurden.

Aber Fracht war nicht alles. Eine Menge Menschen trauerten der Zeit nach, in der die schwimmenden Paläste mit ihren prächtigen Salons und eleganten Passagieren gleich reihenweise auf dem Fluß vorübergezogen waren oder im Hafen festgemacht hatten. Deshalb war die Ankunft eines solchen selten gewordenen Schiffes nicht nur wegen seiner Rarität ein Ereignis, sondern auch, weil es die Menschen an die gute alte Zeit erinnerte. An die Zeit vor dem Krieg, die noch nicht so lange vorbei war und doch nie existiert zu haben schien.

Zwei Schiffe waren es vor allem, die diese Erinnerung hochhielten, in ihrem äußeren Erscheinungsbild so ähnlich wie in ihrem Namen: die QUEEN OF NEW ORLEANS und die QUEEN OF ST. LOUIS. Größere, prächtigere Schiffe hatte man selbst vor dem Krieg in den glorreichen Tagen der Dampfschiffahrt selten auf dem Mississippi gesehen. Fast schien es wie eine Ironie des Schicksals, daß ausgerechnet sie die Fahne der Passagierschiffahrt hochhielten. Aber aus einem anderen Blickwinkel war es nur zu passend. Denn auch die beiden Schiffe waren in einen Krieg verwickelt; einen Krieg, den sie gegeneinander führten.

Auch das war ein Grund für die Aufgeregtheit der Menschen.

Der Krieg zwischen den beiden Mississippi-Steamern spornte sie an, erweckte ihre Neugier, die Sensationslust und in vielen auch die Wettleidenschaft. Wer würde diesmal das Rennen gewinnen und als erste stolze Braut in den Hafen ihres Bräutigams Cairo einlaufen, die stolze QUEEN OF NEW ORLEANS unter Kapitän Homer F. Wilcox oder ihr nicht minder stolzes Schwesterschiff QUEEN OF ST. LOUIS unter Kapitän Henry F. Wilcox?

Die Leute wußten es nicht, was aber die meisten verheimlichten. Von diesen scheinbar Allwissenden hatte jeder seine Favoritin, häufig Geld auf sie gesetzt und manchmal einen nicht unbeträchtlichen Betrag. Und während die doppelte Rauchsäule näherrückte, wurden noch schnell die letzten Wetten abgeschlossen, glaubte doch dieser oder jener in dem Wahn, über die Augen eines Habichts zu verfügen, sichere Erkennungsmerkmale des einen oder anderen Schaufelraddampfers an dem weißen Fleck, der sich unter der Linie des Horizonts näherte, erkannt zu haben.

Man rief sich Dollarbeträge und Wettquoten zu, notierte sich das eilig auf einem Fetzen Papier, der Hemdmanschette oder im Gedächtnis und hoffte auf sein Glück. Das war die alte Spielleidenschaft der Menschen, die aus den großen Fahrgastschiffen zugleich schwimmende Spielclubs gemacht hatten. Willkommene Abwechslung in einem sonst nicht sehr aufregenden Leben am großen Mississippi.

Aber es gab auch Spielverderber unter den Menschen. Leute, die anderen ihren Spaß nicht gönnten. Und solche, die aus ihm ihren eigenen Gewinn zogen. Ein zur zweiten Gruppe gehörender, in einen etwas abgewetzten Rock und einen leicht zerbeulten Zylinder gekleideter Mann kämpfte sich wichtigtuerisch zum Rand der Kaimauer vor, warf sich dort in unübersehbare Positur, zog bedächtig ein golden glänzendes Fernrohr in die Länge, setzte es an sein linkes Auge und starrte so eine Ewigkeit lang auf den Fluß, als wäre er Christoph Columbus, der jeden Augenblick mit der Entdeckung Amerikas rechnete.

Die Menschenmenge verstummte, hing an seinen Lippen, die sich standhaft weigerten, die Nachricht, auf die alle warteten, kundzutun. Fordernde Rufe wurden laut, Angebote für ein Glas Kentucky-Whiskey oder auch zwei, wenn der Mann, ein stadtbekannter Schnapsschnorrer namens Billy Allbright, endlich sein Wissen mitteilen würde. Als Allbright genug solcher Angebote eingeholt hatte - eine Prozedur, die sich jedesmal wiederholte, wenn die beiden konkurrierenden Dampfer in Cairo erwartet wurden -, räusperte er sich laut und vernehmlich, womit er erneut alle zum Schweigen brachte.

Für Sekunden genoß Allbright die atemlose Spannung und seine gottgleiche Macht über die Menschen, bevor er sagte: »Das Schiff ist die...«

Er legte eine Kunstpause ein und beschwor damit erneut fordernde Rufe herauf.

»Spuck's schon aus, Billy!«

»Nun sag's schon, Allbright!«

»Drei doppelte Whiskey für dich, wenn du endlich das Maul aufkriegst!«

Das Angebot ließ sich hören, und er fuhr fort: »Es ist die QUEEN OF...«

Eine erneute Kunstpause und noch einmal hochprozentige Angebote, wie es das Ritual erforderte.

»Die QUEEN OF NEW ORLEANS!«

Jetzt war es heraus und Allbright für die eine Hälfte der Menschen der Held des Tages, für die andere ein Verräter, Lump, Schuft, dreckiger Südstaaten-Rebell oder einfach nur Luft. Von den Angehörigen der letzteren Gruppierung, die voller Zuversicht auf die QUEEN OF ST. LOUIS gewettet hatten, würde er an diesem Tag gewiß keinen einzigen Tropfen Whiskey bekommen. Deshalb erforderte es das Ritual ja gerade, daß Allbright genügend Angebote einholte, bevor er die Information weitergab, die er durch sein erstklassiges Fernrohr erhielt.