»Was?« Valiant versuchte, sich loszumachen, aber die Pistole stimmte ihn schnell um. »Das ist ein Ritt von mindestens zwei Tagen!«, zeterte er. »Ich kann hier nicht so einfach alles stehen und liegen lassen!«
Jacob stieß ihn zur Antwort nur unsanft auf die Tür zu.
Im Vorraum flüsterten die zwei Sekretäre im Schrank. Valiant warf einen ärgerlichen Blick in ihre Richtung und pflückte seinen Hut vom Kleiderhaken neben der Tür.
»Meine Preise sind in den letzten drei Jahren enorm gestiegen«, sagte er.
»Ich werde dich am Leben lassen«, gab Jacob zurück. »Damit bist du fürstlich bezahlt.«
Valiant schenkte ihm ein mitleidiges Lächeln, während er sich den Hut vor der verglasten Eingangstür zurechtrückte. Wie viele Zwerge hatte er eine Leidenschaft für Zylinder, die seiner Größe ein paar Handbreit hinzufügten.
»Es scheint dir sehr wichtig zu sein, zu deiner verflossenen Geliebten zurückzukommen«, schnurrte er. »Und der Preis steigt mit der Verzweiflung des Kunden.«
Jacob setzte ihm zur Antwort die Mündung der Pistole an den Hut. »Verlass dich drauf«, sagte er. »Dieser Kunde ist verzweifelt genug, um dich jederzeit zu erschießen.«
20
ZU VIEL
Fuchs roch goldenen Abscheu, steingewordenen Ekel, erfrorene Liebe. Der Eingang der Höhle atmete sie aus, und das Fell sträubte sich ihr, als sie Claras Spur davor im Gras fand. Sie war mehr gestolpert als gelaufen, und die Spur führte auf die Bäume zu, die hinter der Höhle wuchsen. Fuchs hatte gehört, wie Jacob Clara vor ihnen gewarnt hatte, aber sie war darauf zugehastet, als wäre ihr bedrohlicher Schatten genau das, was sie suchte.
Ihr Geruch war derselbe, den Fuchs roch, wenn sie ihr Fell ablegte. Mädchen. Frau. So viel verwundbarer. Stark und schwach zugleich. Herz, das keine Schale kannte.
Der Geruch sprach von all dem, was Fuchs fürchtete und wovor das Fell sie schützte. Claras hastige Schritte schrieben es auf die dunkle Erde, und Fuchs musste nicht ihre Nase fragen, warum Clara so schnell lief. Sie selbst hatte schon versucht, dem Schmerz davonzulaufen.
Die Haselnusssträucher und wilden Apfelbäume waren harmlos, aber zwischen ihnen ragten Stämme aus dem Dickicht, deren Rinde so stachlig wie die Hülle einer Kastanie war. Vogelbäume. Das Licht der Sonne zerlief unter ihnen in finsterem Braun und Clara war einem von ihnen geradewegs in die holzigen Klauen gestolpert.
Sie schrie nach Jacob, aber der war weit fort. Der Baum hatte ihr die Wurzeln um Knöchel und Arme geschlungen, und auf ihrem Körper landeten seine gefiederten Diener, die Federn so weiß wie frisch gefallener Schnee, Vögel mit spitzen Schnäbeln und Augen, die ihnen wie rote Beeren im Kopf saßen.
Fuchs fuhr zwischen sie mit gebleckten Zähnen, taub für ihr wütendes Geschrei, und packte einen der Vögel im Sprung, bevor er sich hinauf in die schützenden Zweige retten konnte. Sie spürte sein Herz zwischen ihren Kiefern rasen, aber sie biss nicht zu, sondern hielt nur fest, ganz fest, bis der Baum Clara mit einem zornigen Ächzen losließ.
Die Wurzeln lösten sich wie Schlangen von ihren zitternden Gliedern, und als Clara taumelnd auf die Füße kam, glitten sie schon zurück unter die herbstbraunen Blätter, wo sie auf das nächste Opfer warten würden. Die anderen Vögel schimpften aus den Zweigen auf Fuchs herab, geisterhaft weiß zwischen all dem vergilbten Laub, aber sie hielt ihre Beute gepackt und ließ erst los, als Clara an ihre Seite stolperte. Ihr Gesicht war so weiß wie die Federn, die ihr an den Kleidern hafteten, und Fuchs roch nicht nur die Todesangst, die ihr Körper immer noch atmete, sondern auch den Schmerz in ihrem Herzen wie eine frische Wunde.
Sie sprachen kaum ein Wort auf dem Weg zurück zur Höhle. Clara blieb irgendwann stehen, als könnte sie nicht weitergehen, aber schließlich tat sie es doch. Als sie die Höhle erreichten, blickte sie auf den dunklen Eingang, als hoffte sie, Will dort zu sehen, doch dann setzte sie sich neben den Pferden ins Gras und kehrte ihr den Rücken zu. Bis auf ein paar kleine Wunden an Hals und Knöcheln war sie unverletzt, aber Fuchs sah ihr an, dass sie sich schämte - für ihr schmerzendes Herz und dafür, dass sie fortgelaufen war.
Fuchs wollte nicht, dass sie fortging. Sie wechselte die Gestalt und schlang die Arme um sie, und Clara presste ihr Gesicht in das pelzige Kleid, das dem Fell der Füchsin glich.
»Er liebt mich nicht mehr, Fuchs.«
»Er liebt niemanden mehr«, flüsterte Fuchs zurück. »Weil er vergisst, wer er ist.«
Wer wusste besser als sie, wie sich das anfühlte? Eine andere Haut, ein anderes Ich. Aber das Fell der Füchsin war weich und warm. Und der Stein war so hart und kühl.
Clara blickte zur Höhle hinüber. Fuchs zupfte ihr eine Feder aus dem Haar.
»Bitte bleib!«, flüsterte sie ihr zu. »Jacob wird ihm helfen. Du wirst sehen.«
Wenn er nur erst zurück wäre.
21
SEINES BRUDERS HÜTER
Als Jacob auf die Höhle zuritt, kam Fuchs ihm entgegen, aber Will und Clara waren nirgends zu sehen.
»Sieh an. Die räudige Füchsin läuft dir immer noch nach?«, spottete Valiant, als Jacob ihn vom Pferd hob. Er hatte ihn mit einer Silberkette gefesselt, dem einzigen Metall, das Zwerge nicht wie Zwirn zerrissen.
Jacob hätte sich nicht gewundert, wenn Fuchs Valiants Bemerkung mit einem Biss beantwortet hätte, aber sie schien den Zwerg gar nicht zu sehen. Irgendetwas war geschehen. Ihr Fell war gesträubt und an ihrem Rücken hafteten ein paar weiße Federn.
»Du musst mit deinem Bruder reden«, sagte sie, während Jacob Valiant an den nächsten Baum band.
»Wieso?« Er warf einen besorgten Blick zu der Höhle, in der Will sich verbarg, aber Fuchs wies zu den Pferden. Clara schlief dort im Schatten einer Buche. Ihr Hemd war zerrissen und Jacob sah Blut an ihrem Hals.
»Sie haben sich gestritten«, sagte Fuchs. »Er weiß nicht mehr, was er tut!«
Der Stein ist schneller als du, Jacob.
Jacob fand Will im dunkelsten Winkel der Höhle. Er saß auf dem Boden, den Rücken gegen den Fels gelehnt.
Vertauschte Rollen, Jacob. Sonst war immer er es gewesen, der etwas ausgefressen und in der Dunkelheit gesessen hatte, in seinem Zimmer, in der Wäschekammer, im Büro seines Vaters. »Jacob? Wo bist du?«
»Was hast du nun wieder angestellt?« Immer Jacob. Aber nicht Will. Niemals Will.
Die Augen seines Bruders schimmerten wie Münzgold in der Dunkelheit.
»Was hast du zu Clara gesagt?«
Will blickte auf seine Finger und ballte die Faust.
»Ich weiß es nicht mehr.«
»Unsinn!«
Will war nie ein guter Lügner gewesen.
»Du warst es, der sie mitnehmen wollte! Oder erinnerst du dich daran auch nicht mehr?« Hör auf, Jacob. Aber seine Schulter schmerzte, und er war es leid, auf seinen Bruder aufzupassen.
»Bekämpf es!«, fuhr er Will an. »Du kannst dich nicht immer darauf verlassen, dass ich es für dich tue!«
Will richtete sich langsam auf. Seine Bewegungen waren kraftvoller geworden, und es war lange her, dass er Jacob kaum bis zur Schulter gereicht hatte.
»Verlassen, auf dich?«, sagte er. »Das hab ich mir schon mit fünf abgewöhnt. Unsere Mutter hat leider etwas länger gebraucht. Und ich durfte mir jahrelang nachts ihr Weinen anhören.«
Brüder.
Es war, als stünden sie wieder in der Wohnung. Auf dem weiten Flur mit all den leeren Zimmern und dem dunklen Fleck auf der Tapete, wo das Foto ihres Vaters gehangen hatte.