So schön. Jacob tastete nach den Bissspuren auf seiner Hand.
»Seit wann verschläfst du die Nacht?«
Für einen Moment schien sie zu glauben, dass er nur der Traum war, der sie geweckt hatte. Aber dann sah sie das Medaillon neben sich liegen. Sie öffnete es und nahm das Blütenblatt heraus.
»So also hast du dich vor mir versteckt.« Jacob war nicht sicher, was er auf ihrem Gesicht sah. Freude. Zorn. Liebe. Hass. Vielleicht von allem etwas. »Wer hat es dir verraten?«
»Du selbst.«
Ihre Motten schwärmten ihm ins Gesicht, als er einen Schritt auf sie zumachte.
»Du musst mir helfen, Miranda.«
Sie stand auf und wischte sich das Moos von der Haut.
»Ich habe die Nächte verschlafen, weil sie mich zu sehr an dich erinnerten. Aber das ist lange her. Nun ist es nur noch eine schlechte Angewohnheit.«
Ihre Motten färbten die Nacht mit ihren Flügeln rot.
»Ich sehe, du bist nicht allein gekommen«, sagte sie, während sie das Lilienblatt zwischen den Fingern zerrieb. »Und du hast einen Goyl hergebracht.«
»Er ist mein Bruder.« Diesmal ließen die Motten Jacob gewähren, als er auf sie zutrat. »Es ist ein Feenfluch, Miranda.«
»Aber du kommst zur falschen Fee.«
»Du musst einen Weg kennen, ihn aufzuheben!«
Sie schien aus den Schatten gemacht, die sie umgaben, dem Mondlicht und dem Nachttau auf den Blättern. Er war so glücklich gewesen, als es nichts sonst gegeben hatte. Aber es gab so viel anderes.
»Meine Schwester gehört nicht mehr zu uns.« Miranda wandte ihm den Rücken zu. »Sie hat uns für den Goyl verraten.«
»Dann hilf mir!«
Jacob streckte die Hand nach ihr aus, aber sie stieß sie zurück. »Warum sollte ich?«
»Ich musste fort. Ich konnte nicht für alle Ewigkeit hierbleiben!«
»Das hat meine Schwester auch gesagt. Aber Feen gehen nicht fort. Wir gehören dem Ort, der uns geboren hat. Du wusstest das ebenso gut wie sie.«
So schön. Die Erinnerungen spannen ein Netz in die Dunkelheit, in dem sie sich beide verfingen.
»Hilf ihm, Miranda. Bitte!«
Sie hob die Hand und fuhr ihm mit den Fingern über die Lippen.
»Küss mich.«
Es war, als küsste er die Nacht oder den Wind. Ihre Motten zerstachen ihm die Haut, und was er verloren hatte, schmeckte wie Asche in seinem Mund. Als er sie losließ, glaubte er in ihrem Blick für einen Moment sein eigenes Ende zu sehen.
Draußen bellte eine Füchsin. Fuchs behauptete immer, dass sie spürte, wenn er in Gefahr war.
Miranda wandte ihm den Rücken zu.
»Es gibt nur ein Mittel gegen diesen Fluch.«
»Was ist es?«
»Du musst meine Schwester vernichten.« Jacobs Herz setzte aus, nur für einen Schlag, aber er spürte die eigene Furcht wie Schweiß auf der Haut. Die Dunkle Fee.
»Sie verwandelt ihre Feinde in den Wein, den sie trinkt, oder in das Eisen, aus dem ihr Liehhaber Brücken baut.«
Selbst Chanutes Stimme klang heiser vor Angst, wenn er über sie sprach.
»Man kann sie nicht töten«, sagte er. »Ebenso wenig wie dich.«
»Für eine Fee gibt es schlimmere Dinge als den Tod.« Für einen Moment glich ihre Schönheit einer giftigen Blüte. »Wie viel Zeit bleibt deinem Bruder noch?«
»Zwei, vielleicht drei Tage.«
Stimmen drangen durch die Dunkelheit. Die anderen Feen. Jacob hatte nie herausgefunden, wie viele von ihnen es gab.
Miranda blickte auf das Bett, als erinnerte sie sich an die Zeit, in der sie es geteilt hatten. »Meine Schwester ist bei ihrem Geliebten, in der Hauptfestung der Goyl.«
Bis dorthin war es ein Ritt von mehr als sechs Tagen.
Das würde zu spät sein. Viel zu spät.
Jacob war nicht sicher, was er stärker empfand: Verzweiflung oder Erleichterung.
Miranda streckte die Hand aus. Eine ihrer Motten ließ sich darauf nieder.
»Du kannst immer noch rechtzeitig dort sein.« Die Motte spreizte die Flügel. »Wenn ich Zeit für dich gewinne.« Fuchs begann erneut zu bellen.
»Eine von uns hat einmal eine Prinzessin verflucht, an ihrem fünfzehnten Geburtstag zu sterben. Aber wir haben den Fluch aufgehalten. Durch einen tiefen Schlaf.«
Jacob sah das stille Schloss vor sich, eingehüllt in Dornen, und die reglose Gestalt in der Turmkammer.
»Sie ist trotzdem gestorben«, sagte er, »weil niemand sie geweckt hat.«
Miranda zuckte die Schultern. »Ich lasse deinen Bruder schlafen. Du musst dafür sorgen, dass er geweckt wird. Aber erst, nachdem du die Macht meiner Schwester gebrochen hast.«
Die Motte auf ihrer Hand putzte sich die Flügel.
»Das Mädchen, das bei euch ist: Sie gehört zu deinem Bruder, oder?«
Miranda fuhr mit dem nackten Fuß über den Boden und das Mondlicht zeichnete Claras Gesicht darauf.
»Ja«, sagte Jacob - und fühlte etwas, das er nicht verstand.
»Liebt sie ihn?«
»Ja. Ich denke schon.«
»Gut. Denn sonst wird er sich zu Tode schlafen.« Miranda wischte das Bild aus Mondlicht fort. »Bist du meiner Schwester je begegnet?«
Jacob schüttelte den Kopf. Er hatte unscharfe Fotos gesehen, ein gezeichnetes Porträt in einer Zeitung - die dämonische Geliebte, die Feenhexe, die Stein in Menschenfleisch wachsen ließ.
»Sie ist die Schönste von uns.« Miranda strich ihm übers Gesicht, als wollte sie sich an die Liebe erinnern, die sie gefühlt hatte. »Sieh sie nicht zu lange an«, sagte sie leise. »Und was immer sie verspricht - du musst genau das tun, was ich dir sage, oder dein Bruder ist verloren.«
Fuchs' Bellen drang wieder durch die Nacht. Es geht mir gut, Fuchs, dachte Jacob. Alles wird gut. Auch wenn er noch nicht verstand, wie.
Er griff nach Mirandas Hand. Sechs Finger, weißer als die Blüten draußen auf dem See. Sie ließ zu, dass er sie noch einmal küsste.
»Was, wenn ich als Preis für meine Hilfe verlange, dass du zurückkommst?«, flüsterte sie. »Würdest du es tun?«
»Verlangst du es?«, fragte er. Auch wenn er die Antwort fürchtete.
Sie lächelte.
»Nein«, sagte sie. »Mein Preis wird bezahlt, wenn du meine Schwester zerstörst.«
27
SO WEIT FORT
Will hatte den Blick noch nicht ein Mal von der Insel gewendet. Es tat Clara weh, die Furcht auf seinem Gesicht zu sehen - Furcht vor sich selbst, vor dem, was Jacob auf der Insel erfahren würde, aber vor allem davor, dass sein Bruder nicht zurückkommen und er allein bleiben würde mit der Haut aus Stein.
Er hatte sie vergessen. Aber Clara ging trotzdem zu ihm. Der Stein konnte den, den sie geliebt hatte, immer noch nicht völlig verbergen, und er war so allein.
»Jacob kommt bald zurück, Will. Ganz bestimmt.«
Er drehte sich nicht um.
»Bei Jacob weiß man nie, wann er zurückkommt«, sagte er nur. »Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.«
Sie waren beide da: der Fremde aus der Höhle, dessen Kälte sie immer noch wie Gift auf der Zunge schmeckte, und der andere, der vor dem Zimmer seiner Mutter auf dem Krankenhauskorridor gestanden und ihr jedes Mal, wenn sie vorbeiging, zugelächelt hatte. Will. Sie vermisste ihn so sehr.
»Er wird zurückkommen«, sagte sie. »Ich weiß es. Und er wird einen Weg finden. Er liebt dich. Auch wenn er nicht besonders gut darin ist, es zu zeigen.«
Aber Will schüttelte den Kopf.
»Du kennst meinen Bruder nicht«, sagte er und kehrte dem See den Rücken zu, als wäre er es leid, sein Spiegelbild zu sehen. »Jacob hatte sich noch nie damit abfinden können, dass manche Geschichten kein gutes Ende nehmen. Oder dass Dinge und Menschen verloren gehen ...«