»Wozu?«
»Um Will zu finden.« Wovon redete sie?
Hinter ihnen stieß der Zwerg ein ungläubiges Lachen aus. »Will? Es gibt keinen Will mehr.«
Aber Clara beugte sich über Jacob und schob die Hand in seine Manteltasche. »Wir geben dir alles, was er bei sich hatte, wenn du uns hilfst, seinen Bruder zu finden. Er hätte es so gewollt.«
Sie zog das Taschentuch aus Jacobs Manteltasche und zwei Goldtaler fielen ihm auf die Brust. Die Motten wirbelten auf wie Herbstlaub, in das der Wind fuhr.
»Seltsam, wie wenig ähnlich sie sich sahen«, sagte Clara, während sie Jacob das dunkle Haar aus der Stirn strich. »Hast du Geschwister, Fuchs?«
»Drei Brüder.«
Fuchs rieb den Kopf an Jacobs lebloser Hand. Eine letzte Motte erhob sich von seiner Brust und sie fuhr zurück. Durch den reglosen Körper lief ein Schaudern. Die Lippen rangen nach Atem und seine Hände griffen in das kurze Gras.
Jacob!
Fuchs sprang ihn so ungestüm an, dass er aufstöhnte.
Kein Grab. Keine feuchte Erde auf seinem Gesicht! Sie biss ihn ins Kinn und in die Wangen. Oh, sie wollte ihn auffressen vor Liebe.
»Fuchs! Was soll das?« Jacob hielt sie fest und setzte sich auf.
Clara wich vor ihm zurück wie vor einem Geist und der Zwerg ließ die Flinte fallen.
Aber Jacob saß nur da und musterte sein blutiges Hemd. »Wessen Blut ist das?«
»Deins!« Fuchs schmiegte sich an seine Brust, um seinen Herzschlag zu spüren. »Der Goyl hat dich erschossen!«
Er blickte sie ungläubig an. Dann knöpfte er sich das blutgetränkte Hemd auf. Aber über seinem Herzen war statt einer Wunde nur der blassrote Abdruck einer Motte zu sehen.
»Du warst tot, Jacob.« Clara kämpfte mit den Worten, als müsste ihre Zunge nach jeder Silbe suchen. »Tot.«
Jacob berührte den Abdruck auf seiner Brust. Er war immer noch nicht ganz zurück. Fuchs sah es ihm an. Aber plötzlich blickte er sich suchend um.
»Wo ist Will?«
Er kam mühsam auf die Füße, als er den Zwerg hinter sich stehen sah.
Valiant schenkte ihm sein breitestes Lächeln. »Diese Fee muss wirklich einen Narren an dir gefressen haben. Ich habe gehört, dass sie ihre Geliebten vom Tod zurückbringen, aber dass sie es auch für die tun, die ihnen davonlaufen ...« Er schüttelte den Kopf und hob die verformte Flinte auf.
»Wo ist mein Bruder?« Jacob machte drohend einen Schritt auf den Zwerg zu, aber Valiant brachte sich mit einem Satz über das leere Grab in Sicherheit.
»Langsam, langsam!«, rief er und hielt Jacob drohend die Flinte entgegen. »Wie soll ich dir das verraten, wenn du mir vorher den Hals umdrehst?«
Clara schob Jacob das Taschentuch und die zwei Taler zurück in die Tasche. »Es tut mir leid. Ich wusste nicht, wie ich Will ohne ihn finden soll.« Sie verbarg das Gesicht an seiner Schulter. »Ich dachte, ich hätte euch beide verloren.«
Jacob strich ihr tröstend übers Haar, aber er ließ Valiant nicht aus den Augen. »Keine Sorge. Wir finden Will. Ich verspreche es dir. Dafür brauchen wir den Zwerg nicht.«
»Ach nein?« Valiant brach den verbogenen Lauf der Flinte ab wie einen morschen Ast. »Sie bringen deinen Bruder in die Königsfestung. Der letzte Mensch, der sich dort eingeschlichen hat, war ein kaiserlicher Spion. Sie haben ihn in Bernstein gegossen. Du kannst ihn gleich neben dem Haupttor besichtigen. Abscheulicher Anblick.«
Jacob hob seine Pistole auf und schob sie in den Gürtel. »Aber du weißt natürlich trotzdem einen Weg hinein.«
Valiant verzog den Mund zu einem so selbstzufriedenen Lächeln, dass Fuchs die Zähne bleckte. »Sicher.«
Jacob musterte den Zwerg wie eine giftige Schlange.
»Wie viel?«
Valiant bog die abgebrochene Flinte zurecht. »Dieser Goldbaum, den du letztes Jahr der Kaiserin verkauft hast ... Es heißt, sie hat dir einen Ableger überlassen.«
Zum Glück bemerkte er den Blick nicht, den Fuchs Jacob zuwarf. Der Baum wuchs hinter der Ruine, zwischen den niedergebrannten Ställen, und bisher war das einzige Gold, das er regnete, sein übel riechender Blütenstaub. Aber Jacob brachte trotzdem ein empörtes Gesicht zustande.
»Das ist ein unverschämter Preis.«
»Angemessen.« Valiants Augen leuchteten, als spürte er das Gold schon auf die Schultern prasseln. »Und die Füchsin muss mir den Baum selbst dann zeigen, wenn du nicht lebend aus der Festung zurückkommst. Darauf will ich dein Ehrenwort.«
»Ehrenwort?« Fuchs ließ ein Knurren hören. »Es wundert mich, dass deine Zunge bei dem Wort keine Blasen bekommt!«
Der Zwerg schenkte ihr ein verächtliches Lächeln. Und Jacob streckte ihm die Hand hin.
»Gib ihm dein Wort, Fuchs«, sagte er. »Was immer passiert, ich bin sicher, er wird sich den Baum verdient haben.«
31
DUNKLES GLAS
Ohne die Pferde dauerte es Stunden, bis sie endlich eine Straße erreichten, die aus dem Tal hinauf in die Berge führte, und Jacob musste Valiant auf dem Rücken tragen, damit er sie nicht zusätzlich aufhielt. Ein Bauer nahm sie schließlich auf seinem Karren mit in den nächsten Ort, wo Jacob zwei neue Pferde und einen Esel für den Zwerg kaufte. Die Pferde waren nicht allzu schnell, aber sie waren die steilen Bergpfade gewohnt, und Jacob hielt erst an, als die Dunkelheit sie immer öfter vom Weg abkommen ließ.
Er fand einen Platz unter einem Felsvorsprung, der Schutz vor dem kalten Wind bot, und Valiant schnarchte schon bald so laut, als läge er in einem der weichen Betten, für die die Gasthäuser der Zwerge berühmt waren. Fuchs huschte davon, um zu jagen, und Jacob riet Clara, sich hinter den Pferden schlafen zu legen, damit ihre Wärme sie schützte. Er selbst aber zündete sich mit dem trockenen Holz, das er zwischen den Felsen fand, ein Feuer an und versuchte, etwas von dem Frieden wiederzufinden, den er auf der Insel gefühlt hatte. Er ertappte sich immer wieder dabei, dass er über das getrocknete Blut auf seinem Hemd strich, doch alles, woran er sich erinnerte, war Wills anklagender Blick, nachdem die Rose ihn gestochen hatte, und dann Fuchs, die ihm erleichtert die Schnauze ins Gesicht stieß. Dazwischen war nichts, nur eine Ahnung von Schmerz und Dunkelheit. Und sein Bruder war fort.
»Wenn du aufwachst, ist alles vorbei. Ich verspreche es.«
Wie, Jacob? Selbst wenn der Zwerg ihn nicht wieder verriet und er die Dunkle Fee in der Festung fand. Wie sollte er ihr nah genug kommen, um sie zu berühren oder gar auszusprechen, was ihre Schwester ihm verraten hatte, bevor sie ihn tötete?
Denk nicht, Jacob. Tu es einfach.
Er brannte vor Ungeduld, als hätte der Tod seine alte Unrast nur schlimmer gemacht. Er wollte den Zwerg wachrütteln, weiterreiten.
Weiter, Jacob. Immer weiter. So, wie du es seit Jahren tust. Der Wind fuhr in das Feuer und er knöpfte sich den Mantel über dem blutigen Hemd zu. »Jacob?«
Clara stand hinter ihm. Sie hatte sich eine der Pferdedecken um die Schultern gelegt, und es fiel ihm auf, dass ihr Haar länger geworden war.
»Wie geht es dir?« Aus ihrer Stimme klang immer noch das ungläubige Staunen darüber, dass er am Leben war.
»Gut«, gab er zurück. »Willst du meinen Puls fühlen, um dich zu überzeugen?«
Sie musste lächeln, aber die Sorge in ihrem Blick blieb.
Über ihnen schrie eine Eule. In der Spiegelwelt hielt man sie für die Seelen toter Hexen. Clara kniete sich neben ihn auf die kalte Erde und hielt die Hände über die wärmenden Flammen.
»Glaubst du immer noch, dass du Will helfen kannst?«
Sie sah furchtbar müde aus.
»Ja«, sagte er. »Aber glaub mir, mehr willst du nicht wissen. Es würde dir nur Angst machen.«
Sie blickte ihn an. Ihre Augen waren so blau wie die seines Bruders. Bevor sie im Gold ertrunken waren.