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Trotzdem.

Er hatte keine Wahl.

»Keine Sorge!« Der Fährmann streckte ihm die schwielige Hand hin. »Wir werden sie schon nicht wecken!«

Aber als Jacob den Goldtaler hineinfallen ließ, griff er in die ausgebeulten Taschen und drückte ihm und Valiant Wachspfropfen in die Hand. Sie sahen aus, als hätten sie schon in vielen Ohren gesteckt.

»Nur zur Vorsicht. Man kann ja nie wissen.«

»Ihr braucht keine!« Er schenkte Clara ein verschlagenes Lächeln. »Die Loreley haben es nur auf Männer abgesehen.«

Fuchs tauchte erst auf, als sie die Pferde schon auf die Fähre führten. Sie zupfte sich ein paar Federn aus dem Fell, bevor sie auf das flache Boot sprang. Die Pferde waren unruhig, aber der Fährmann schob den Goldtaler in seine Tasche und löste die Seile.

Die Fähre trieb auf den Fluss hinaus. Hinter ihnen lösten sich die Häuser von Blenheim in der Dämmerung auf und das einzige Geräusch in der abendlichen Stille war das Schlagen des Wassers gegen den Fährenrumpf. Das andere Ufer kam langsam näher und der Fährmann zwinkerte Jacob zuversichtlich zu. Aber die Pferde waren immer noch unruhig und Fuchs stand mit aufgestellten Ohren da.

Eine Stimme wehte über den Fluss.

Zuerst klang sie wie die eines Vogels, doch dann immer mehr wie die einer Frau. Die Stimme kam von einem Felsen, der links von ihnen aus dem Wasser ragte, so grau, als wäre die Dämmerung zu Stein geworden. Eine Gestalt löste sich davon und glitt in den Fluss. Eine zweite folgte. Sie kamen von überall.

Valiant stieß einen Fluch aus. »Was habe ich dir gesagt?«, fuhr er Jacob an. »Schneller!«, rief er dem Fährmann zu. »Nun mach schon.«

Aber der schien weder den Zwerg noch die Stimmen zu hören, die immer lockender über das Wasser klangen. Erst als Jacob ihm die Hand auf die Schulter legte, fuhr er herum.

»Schwerhörig! Der verschlagene Hund ist fast so taub wie ein toter Fisch!«, schrie Valiant und stopfte sich hastig die Wachspfropfen in die Ohren.

Der Fährmann zuckte nur die Achseln und klammerte sich fest an sein Ruder, und Jacob fragte sich, wie oft er schon ohne seine Passagiere zurückgekommen war, während er sich das schmutzige Wachs in die Ohren schob.

Die Pferde scheuten. Er konnte sie kaum bändigen. Das letzte Tageslicht schwand, und das andere Ufer kam so langsam näher, als triebe das Wasser sie wieder zurück. Clara trat dicht an seine Seite, und Fuchs stellte sich schützend vor ihn, obwohl sich ihr das Fell vor Angst sträubte. Die Stimmen wurden so laut, dass Jacob sie trotz der Pfropfen hörte. Sie lockten ihn zum Wasser. Clara zog ihn von der Reling zurück, aber der Gesang drang ihm durch die Haut wie süßes Gift. Köpfe tauchten aus den Wellen auf. Haar trieb wie Schilf auf dem Wasser, und als Clara ihn für einen Augenblick losließ, um sich selbst die Hände auf die schmerzenden Ohren zu pressen, spürte Jacob, dass seine Finger nach den schützenden Pfropfen griffen und sie über Bord warfen.

Die singenden Stimmen schnitten ihm wie honigtriefende Messer ins Hirn. Clara versuchte erneut, ihn festzuhalten, als er auf den Fährenrand zutaumelte, aber Jacob stieß sie so unsanft zurück, dass sie gegen den Fährmann stolperte.

Wo waren sie? Er beugte sich über das Wasser. Zuerst sah er nur sein eigenes Spiegelbild, doch plötzlich verschmolz es mit einem Gesicht. Es glich dem einer Frau, aber es war nasenlos, mit Augen aus Silber und Fangzähnen, die sich über die blassgrünen Lippen schoben. Arme streckten sich aus dem Fluss und Finger krallten sich um Jacobs Handgelenk. Eine andere Hand griff ihm ins Haar. Wasser schwappte über den Fährenrand. Sie waren überall, streckten die Arme nach ihm aus, die fischigen Leiber halb aus dem Wasser gestemmt, die Zähne gebleckt. Loreley. So viel schlimmer als das Lied. Die Wirklichkeit war immer schlimmer.

Fuchs biss fest in einen der schuppigen Arme, die Jacob gepackt hielten, doch die anderen Loreley zerrten ihn über die Reling. Er verlor den Halt, sosehr er sich auch wehrte, aber plötzlich hörte er einen Schuss, und eine der Nixen versank mit zerschossener Stirn in dem trüben Wasser.

Clara stand hinter ihm und hielt die Pistole, die er ihr gegeben hatte. Sie erschoss eine weitere Loreley, die versuchte, den Zwerg ins Wasser zu zerren. Der Fährmann tötete zwei mit einem Messer, und Jacob selbst erschoss eine, die die Krallen in Fuchs' Fell geschlagen hatte. Als die toten Leiber davontrieben, wichen die anderen Loreley zurück und machten sich über ihresgleichen her.

Clara ließ bei dem Anblick die Pistole fallen. Sie verbarg das Gesicht in den Händen, während Jacob und Valiant die scheuenden Pferde einfingen und der Fährmann das wild schlingernde Boot auf den Anleger zusteuerte. Die Loreley schrien ihnen wütend nach, aber ihre Stimmen klangen nur noch wie ein Schwarm keifender Möwen.

Sie schrien auch noch, als sie die Pferde ans Ufer führten. Und der Fährmann trat Jacob in den Weg und hielt ihm die Hand hin. Valiant stieß ihn dafür so grob zurück, dass er fast in den Fluss stolperte.

»Ach, das mit dem zweiten Taler hast du also gehört!«, fuhr er ihn an. »Wie wär's, wenn du uns den ersten zurückgibst, oder lässt du dich immer dafür bezahlen, dass du den Loreley ihr Abendessen besorgst?«

»Was wollt ihr, ich hab euch übergesetzt!«, gab der Fährmann zurück. »Die verfluchte Fee hat sie ausgesetzt. Soll ich mir dadurch das Geschäft ruinieren lassen? Und abgemacht ist abgemacht.«

»Schon gut«, sagte Jacob und zog einen weiteren Taler aus der Tasche. Sie waren am anderen Ufer, das war alles, was zählte. »Gibt es sonst noch was, wovor wir uns besser in Acht nehmen sollten?«

Valiant folgte dem Taler mit den Augen, bis er in den schmutzigen Taschen des Fährmanns verschwand.

»Hat der Zwerg euch von den Drachen erzählt? Sie sind rot wie das Feuer, das sie speien, und wenn sie über den Bergen kreisen, brennen tagelang die Hänge.«

»Ja, die Geschichte hab ich auch schon gehört.« Valiant warf Jacob einen vielsagenden Blick zu. »Aber erzählt ihr euren Kindern nicht auch, dass an diesem Ufer noch Riesen hausen? Abergläubisches Geschwätz.« Der Zwerg senkte die Stimme. »Soll ich dir sagen, wo es tatsächlich Drachen gibt?«

Der Fährmann beugte sich neugierig zu ihm hinunter.

»Ich hab ihn mit eigenen Augen gesehen!«, rief Valiant ihm in das schwerhörige Ohr. »In seinem Knochennest, nur zwei Meilen flussaufwärts, aber er war grün, und aus seinem hässlichen Maul hing ein Bein, das genauso mager wie deine war! Beim Teufel und all seinen goldenen Haaren, hab ich mir gesagt, ich möchte nicht in Blenheim leben, sollte es dem Biest eines Tages einfallen, den Fluss abwärtszufliegen!«

Die Augen des Fährmanns wurden so groß wie Jacobs Goldtaler. »Zwei Meilen?« Er blickte besorgt den Fluss hinauf.

»Ja, vielleicht war es auch etwas weniger!« Valiant ließ ihm die schmutzigen Ohrenpfropfen in die Hand fallen. »Viel Spaß auf der Rückfahrt.«

»Keine schlechte Geschichte!«, flüsterte Jacob, als der Zwerg sich auf seinen Esel schwang. »Aber was sagst du, wenn ich dir erzähle, dass ich wirklich mal einen Drachen gesehen habe?«

»Dass du ein Lügner bist«, gab Valiant mit gesenkter Stimme zurück.

Hinter ihnen schrien immer noch die Loreley, und Jacob bemerkte die Klauenspuren an Claras Arm, als er ihr aufs Pferd half. Trotzdem fand sich in ihren Augen kein Vorwurf, dass er sie zu der Überfahrt gedrängt hatte.

»Was riechst du?«, fragte er Fuchs.

»Goyl«, antwortete sie. »Nichts als Goyl. Als wäre die Luft aus ihnen gemacht.«

33

SO MÜDE

Will wollte schlafen. Nur schlafen und das Blut vergessen, all das Blut auf Jacobs Brust. Er spürte die Zeit nicht mehr, ebenso wenig wie er die eigene Haut spürte oder das eigene Herz. Sein toter Bruder. Das war das einzige Bild, was den Weg in seine Träume fand. Und die Stimmen. Die eine rau. Die andere wie Wasser. Kühles, dunkles Wasser.