»Mach die Augen auf«, sagte sie. Aber er konnte nicht. Er konnte nur schlafen. Auch wenn das hieß, all das Blut zu sehen. Eine Hand strich ihm übers Gesicht. Nicht steinern, sondern weich und kühl.
»Wach auf, Will.«
Aber er wollte erst wieder aufwachen, wenn er zurück war: in der anderen Welt, wo das Blut auf Jacobs Brust ebenso nur ein Traum sein würde wie die Jadehaut und der Fremde, der sich in ihm regte.
»Er war bei Eurer Roten Schwester.«
Die Stimme des Mörders. Will wollte ihm mit seinen neuen Krallen die Jaspishaut aufschlitzen und ihn ebenso reglos daliegen sehen wie Jacob. Aber der Schlaf hielt ihn gefangen und lähmte ihm die Glieder besser als jede Fessel.
»Wann?« Zorn. Will spürte ihn wie ein Messer aus Eis. »Warum hast du ihn nicht aufgehalten?«
»Wie? Ihr habt mir nicht verraten, wie man an den Einhörnern vorbeikommt!« Hass. Wie Feuer gegen das Eis. »Ihr seid mächtiger als Eure Schwester. Macht einfach rückgängig, was sie mit ihm getan hat.«
»Es ist ein Dornenzauber! Niemand kann ihn rückgängig machen. Ich habe gesehen, dass er ein Mädchen bei sich hatte. Wo ist sie?«
»Ich hatte keinen Befehl, sie herzubringen.«
Das Mädchen. Wie hatte sie ausgesehen? Will wusste es nicht mehr. Das Blut hatte ihr Gesicht fortgewaschen.
»Bring sie mir! Das Leben deines Königs hängt davon ab.«
Will spürte die Finger wieder auf dem Gesicht. So weich und kühl.
»Ein Schild aus Jade. Aus dem Fleisch seiner Feinde.« Ihre Stimme strich ihm über die Haut. »Meine Träume lügen nie.«
34
LERCHENWASSER
Für eine Weile rührte sie Valiant sehr zielstrebig durch die Nacht. Doch als die Hänge um sie her immer schroffer wurden und die Straße, der sie vom Fluss aus gefolgt waren, sich in Schotter und Dornendickicht verlor, zügelte der Zwerg den Esel und blickte sich ratlos um.
»Was?«, fragte Jacob und ritt an seine Seite. »Sag nicht, du hast dich jetzt schon verirrt.«
»Als ich das letzte Mal hier war, war es helllichter Tag!«, gab Valiant gereizt zurück. »Wie soll man einen verborgenen Eingang finden, wenn es dunkler ist als im Hintern eines Riesen? Er muss ganz in der Nähe sein!
Jacob stieg vom Pferd und drückte ihm die Taschenlampe in die Hand. »Hier!«, sagte er. »Finde ihn. Und wenn möglich, noch diese Nacht.«
Der Zwerg ließ den Strahl der Lampe ungläubig durch die Dunkelheit tasten. »Was ist das? Ein Feenzauber?«
»So ähnlich«, gab Jacob zurück.
Valiant leuchtete einen Hang hinab, der sich zu ihrer Linken im Dickicht verlor. »Ich könnte schwören, dass es da unten ist.«
Fuchs blickte ihm misstrauisch nach, als er hinunterstiefelte.
»Geh mit ihm«, sagte Jacob. »Sonst geht er noch verloren.«
Fuchs war nicht begeistert von der Aufgabe, aber schließlich huschte sie dem Zwerg hinterher.
Clara stieg vom Pferd und band es an den nächsten Baum. Die Goldfäden auf ihrem Rock schimmerten im Mondlicht noch stärker. Jacob pflückte ein paar Eichenblätter und gab sie ihr.
»Reib sie zwischen den Händen und streich über die Stickerei.«
Clara gehorchte und die Fäden verblassten unter ihren Fingern, als hätte sie das Gold von dem blauen Stoff gewischt.
»Elfengarn«, sagte Jacob. »Wunderschön. Aber jeder Goyl würde dich schon auf Meilen Entfernung sehen.«
Clara fuhr sich durch das verräterisch helle Haar, als wollte sie es ebenso umfärben wie das Kleid.
»Du willst allein in die Festung gehen.«
»Ja.«
»Du wärst tot, wenn du auf dem Fluss allein gewesen wärst! Lass mich mitkommen. Bitte.«
Aber Jacob schüttelte den Kopf. »Es ist zu gefährlich. Will ist verloren, wenn dir etwas passiert. Er wird dich bald wesentlich mehr brauchen als mich.«
»Wieso?« Es war so kalt, dass der Atem ihr weiß vor den Lippen hing.
»Du wirst ihn aufwecken müssen.«
»Aufwecken?«
Es dauerte ein paar Augenblicke, bis sie begriff. »Die Rose ...«, flüsterte sie.
Und der Prinz beugte sich über sie und weckte sie mit einem Kuss.
Über ihnen standen die Sicheln der zwei Monde so schmal am schwarzen Himmel, als wären sie in der Nacht verhungert.
»Wieso glaubst du, dass ich ihn wecken kann? Dein Bruder liebt mich nicht mehr!« Sie gab sich Mühe, den Schmerz in ihrer Stimme zu verbergen.
Jacob zog den Mantel aus, der ihn wie einen reichen Händler hatte aussehen lassen. Die einzigen Menschen in der Festung waren Sklaven und sie trugen bestimmt keinen Pelzbesatz am Kragen.
»Aber du liebst ihn«, sagte er. »Das muss reichen.« Clara stand da und schwieg.
»Was, wenn nicht?«, sagte sie schließlich. »Was, wenn es nicht reicht?«
Er musste ihr nicht antworten. Sie erinnerten sich beide an das Schloss und die Toten unter den Blättern.
»Wie lange hat es gedauert, bis Will dich gefragt hat, ob du mit ihm ausgehst?« Jacob schlüpfte in seinen alten Mantel.
Die Erinnerung wischte Clara die Angst vom Gesicht. »Zwei Wochen. Ich dachte, er fragt nie. Dabei haben wir uns jeden Tag im Krankenhaus gesehen, wenn er eure Mutter besucht hat.«
»Zwei Wochen? Das ist schnell für Will.« Hinter ihnen raschelte es, und Jacob griff nach der Pistole, aber es war nur ein Dachs, der sich seinen Weg durch die Büsche suchte. »Wo ist er mit dir hingegangen?«
»Ins Krankenhauscafe. Kein sonderlich romantischer Ort.« Clara lächelte. »Er hat mir von einem angefahrenen Hund erzählt, den er gefunden hat. Bei unserer nächsten Verabredung hat er ihn mitgebracht.«
Jacob ertappte sich dabei, dass er Will um den Ausdruck auf ihrem Gesicht beneidete.
»Lass uns Wasser suchen«, sagte er und band die Pferde los.
Neben dem Tümpel, den sie fanden, stand ein verlassener Karren. Die Räder versanken im Uferschlamm und ein Reiher hatte auf der morschen Ladefläche sein Nest gebaut. Die Pferde senkten gierig die Nüstern ins Wasser, und Valiants Esel watete bis zu den Knien hinein, aber als Clara auch davon trinken wollte, zog Jacob sie zurück.
»Wassermänner«, sagte er. »Der Karren hat wahrscheinlich irgendeinem Bauernmädchen gehört. Sie holen sich zu gern eine Menschenbraut. Und in dieser Gegend warten sie bestimmt schon lange auf Beute.«
Jacob glaubte, den Wassermann seufzen zu hören, als Clara von dem Tümpel zurückwich. Sie waren ziemlich abscheulich, aber sie fraßen ihre Opfer nicht wie die Loreley. Sie schleppten die Mädchen in Höhlen, in denen sie atmen konnten, fütterten sie und brachten ihnen Geschenke. Muscheln, Flussperlen, den Schmuck Ertrunkener ... Jacob hatte eine Zeit lang für die verzweifelten Eltern solcher Verschleppter gearbeitet. Er hatte drei Mädchen zurück ans Tageslicht gebracht, arme verstörte Dinger, die nie ganz aus den dunklen Höhlen zurückkehrten, in denen sie Monate zwischen Perlen und Fischgräten die schleimigen Küsse eines verliebten Wassermanns hatten ertragen müssen. Einmal hatten die Eltern die Bezahlung verweigert, weil sie ihre Tochter nicht wiedererkannt hatten.
Jacob ließ die Pferde weitertrinken und machte sich auf die Suche nach dem Bach, der den Tümpel speiste. Er fand ihn schon bald, ein schmales Rinnsal, das aus einem nahen Felsspalt floss. Jacob fischte die welken Blätter von der Oberfläche und Clara füllte sich die Hände mit dem eiskalten Wasser. Es schmeckte erdig und frisch, und Jacob sah die Vögel erst, nachdem er und Clara schon getrunken hatten. Zwei tote Lerchen, die aneinandergepresst zwischen den feuchten Steinen klemmten. Er spuckte aus und zerrte Clara auf die Füße.
»Was ist?«, fragte sie erschrocken.
Ihre Haut roch nach Herbst und nach dem Wind. Nein, Jacob. Aber es war schon zu spät. Clara wich nicht zurück, als er sie an sich zog. Er griff ihr ins Haar, küsste ihren Mund und spürte ihr Herz ebenso heftig schlagen wie seines. Den Lerchen zerplatzten die winzigen Herzen von der Raserei, daher der Name: Lerchenwasser. Unverdächtig, kühl und klar, aber ein Schluck, und man war verloren. Lass sie los, Jacob. Aber er küsste sie weiter, während Clara nicht Wills, sondern seinen Namen flüsterte. »Jacob!«