»Nein danke«, raunte Jacob und knöpfte den Mantel über dem Gürtel zu. »Falls sie mich anhalten, will ich mich bestimmt nicht auf dich verlassen müssen.«
Die nächste Straße, auf die sie stießen, war so breit wie die Alleen der kaiserlichen Hauptstadt, aber diese wurde nicht von Bäumen, sondern von Felswänden gesäumt, und als Valiant den Strahl der Taschenlampe an ihnen entlangwandern ließ, schälten sich Gesichter aus der Dunkelheit. Jacob hatte es immer für ein Märchen gehalten, dass die Goyl ihre Helden ehrten, indem sie die Mauern ihrer Festungen aus ihren Köpfen bauten. Aber offenbar hatte die Geschichte, wie alle Märchen, einen dunklen und sehr wahren Kern. Hunderte von Toten starrten auf sie herab. Tausende. Kopf an Kopf, wie groteske Steine. Die Gesichter blieben, wie bei allen Goyl, im Tod unverändert, nur die erloschenen Augen waren durch Goldtopas ersetzt worden.
Valiant blieb nicht lange auf der Allee der Toten. Stattdessen nahm er Tunnel, die sich schmal wie Bergstraßen abwärtswanden, tiefer und tiefer unter die Erde. Jacob sah immer öfter Licht am Ende eines Seitentunnels oder spürte den Lärm von Motoren wie ein Vibrieren auf der Haut. Ein paarmal hallte ihnen das Geräusch von Hufschlag oder Wagenrädern entgegen, aber zum Glück taten sich entlang der Straßen immer wieder lichtlose Höhlen auf, wo sie sich in einem Dickicht von Stalagmiten oder hinter Vorhängen aus Tropfstein verstecken konnten.
Das Tropfen des Wassers war überall zu hören, stetig und unentrinnbar, und um sie herum verbargen sich die Wunder, die es in Jahrtausenden geformt hatte, in der Dunkelheit: kalkweiße Kaskaden aus Stein, die wie gefrorenes Wasser von den Wänden schäumten, Wälder aus Sandsteinnadeln, die über ihnen von den Decken hingen, und Blumen aus Kristall, die in der Finsternis blühten. In vielen Höhlen war kaum eine Spur von den Goyl zu entdecken, außer einem geraden Pfad, der durch das Steindickicht führte, oder ein paar Tunneln, die sich quadratisch in einer Felswand öffneten. Andere zeigten Steinfassaden und Mosaiken, die aus älteren Zeiten zu stammen schienen - Ruinen zwischen den Säulen, die der Stein hatte wachsen lassen.
Es schien Jacob, als wären sie schon Tage durch diese unterirdische Welt geirrt, als sich vor ihnen eine Höhle öffnete, auf deren Grund ein See schimmerte. An den Wänden wuchsen Pflanzen, die keine Sonne brauchten, und über das Wasser spannte sich eine endlose Brücke, die kaum mehr als ein mit Eisen verstärkter Felsbogen war. Jeder Schritt darauf hallte verräterisch laut durch die weite Höhle und scheuchte Schwärme von Fledermäusen auf, die von der Decke hingen.
Sie hatten die Brücke erst zur Hälfte überquert, als Valiant so abrupt stehen blieb, dass Jacob in ihn hineinstolperte. Der Tote, dessen Körper ihnen den Weg versperrte, war kein Goyl, sondern ein Mensch. Auf seine Stirn war das Zeichen des Königs tätowiert und an Brust und Kehle klafften Bisswunden.
»Einer der Kriegsgefangenen, die sie als Sklaven nutzen.« Valiant starrte besorgt hinauf zur Höhlendecke.
Jacob zog die Pistole. »Was hat ihn getötet?«
Der Zwerg leuchtete mit der Taschenlampe zwischen die Stalaktiten, die über ihnen von der Decke hingen.
»Die Wächter«, raunte er. »Sie züchten sie als Wachhunde für die äußeren Tunnel und Straßen. Sie regen sich nur, wenn sie etwas anderes als Goyl wittern. Aber auf dieser Route hatte ich noch nie Ärger mit ihnen! Warte!«
Valiant ließ einen unterdrückten Fluch hören, als der Strahl der Taschenlampe eine Reihe beunruhigend großer Löcher zwischen den Stalaktiten fand.
Ein Zwitschern hallte durch die Stille. Scharf wie ein Warnruf.
»Renn!« Der Zwerg sprang über den Toten und zerrte Jacob mit sich.
Die Luft war plötzlich erfüllt vom Flattern ledriger Flügel. Die Wächter der Goyl stießen wie Raubvögel zwischen den Stalaktiten hervor: bleiche, menschenähnliche Kreaturen, mit Flügeln, die in scharfen Klauen endeten. Ihre Augen waren milchig weiß wie die von Blinden, doch offenbar wiesen ihre Ohren ihnen zuverlässig den Weg.
Jacob tötete zwei im Flug, und Valiant erschoss einen, der sich mit den Flügeln in Jacobs Rücken krallte, aber über ihnen krochen schon drei weitere aus den Löchern. Der eine versuchte, Jacob die Pistole zu entreißen. Er stieß ihm den Ellbogen in das blasse Gesicht und hieb ihm mit dem Säbel einen Flügel ab. Das Geschöpf schrie so schrill auf, dass Jacob fürchtete, es würde Dutzende von ihnen herbeirufen, doch zu ihrem Glück schien nicht jedes der Löcher bewohnt.
Die Wächter waren plumpe Angreifer, aber am Ende der Brücke gelang es einem von ihnen, den Zwerg zu Boden zu reißen. Er bleckte die Zähne schon nach Valiants Kehle, als Jacob ihm den Säbel zwischen die Flügel stieß. Sein Gesicht glich aus der Nähe dem eines menschlichen Embryos. Selbst der Körper hatte etwas Kindliches, und Jacob wurde so übel, als hätte er noch nie getötet.
Sie retteten sich mit zerbissenen Schultern und Armen in den nächsten Tunnel, aber keine der Wunden war allzu tief, und Valiant war zu aufgebracht, um sich über das Jod zu wundern, das Jacob ihm auf die Bisse träufelte.
»Ich hoffe, dieser Goldbaum trägt viele Jahre«, knurrte er, während Jacob ihm die Hand verband, »oder du hast jetzt schon Schulden bei mir!«
Draußen kreisten immer noch zwei Wächter über der Brücke. Sie flogen ihnen nicht nach, aber der Kampf mit ihnen war so anstrengend gewesen, dass Jacob das Atmen nur noch schwerer fiel, und die dunklen Straßen wollten einfach nicht enden. Er fragte sich gerade erschöpft, ob der Zwerg am Ende doch wieder ein schmutziges Spiel spielte, als der Tunnel vor ihnen eine Biegung machte und sich am Ende abrupt in Licht auflöste.
»Da ist es!«, raunte Valiant ihm zu. »Das Nest der Bestien oder die Höhle der Löwen, je nachdem, auf wessen Seite du stehst.«
Die Höhle, in deren Felswand der Tunnel sich öffnete, hatte so gewaltige Ausmaße, dass Jacob nicht erkennen konnte, wo sie endete. Unzählige Lampen verbreiteten das spärliche Licht, das Goylaugen behagte, aber sie schienen von Elektrizität statt von Gas betrieben und beleuchteten eine Stadt, die aussah, als hätte der Stein selbst sie hervorgebracht. Häuser, Türme und Paläste wuchsen vom Boden der Höhle und an ihren Wänden hinauf wie die Waben eines Wespennestes, und Dutzende eiserner Brücken spannten sich über das Häusermeer, als sei es ein Leichtes, Eisen durch die Luft zu bauen. Ihre Pfeiler wuchsen wie Bäume zwischen den Dächern empor, und einige wurden wie mittelalterliche Brücken in der anderen Welt von Häusern gesäumt, schwebende Gassen unter einem Himmel aus Sandstein. Sie glichen dem eisernen Netz einer Spinne, aber Jacobs Blick wanderte höher, hinauf zu der Höhlendecke, von der drei gigantische Stalaktiten hingen. Der größte war gespickt mit Türmen aus Kristall, die wie Speere nach unten wiesen, und seine Mauern leuchteten, als wären sie mit dem Mondlicht der oberen Welt getränkt.
»Ist das der Palast?«, raunte Jacob dem Zwerg zu. »Kein Wunder, dass sie nicht allzu beeindruckt von unseren Bauten sind. Und wann haben sie diese Brücken gebaut?«
»Was weiß ich?«, gab Valiant mit gesenkter Stimme zurück. »Goylgeschichte wird an Zwergenschulen nicht gelehrt. Der Palast ist angeblich mehr als siebenhundert Jahre alt, aber ihr König plant eine modernere Version, weil er ihn zu altmodisch findet. Die zwei Stalaktiten daneben sind Militärbaracken und Gefängnisse.« Der Zwerg grinste Jacob verschlagen zu. »Willst du, dass ich für dich herausfinde, in welchem dein Bruder steckt? Deine Goldtaler machen sicher auch Goylzungen gesprächig. Aber natürlich kostet das auch für mich extra.«
Als Jacob ihm zur Antwort zwei Goldtaler in die Hand drückte, konnte Valiant sich nicht beherrschen. Er reckte sich hoch und schob Jacob die kurzen Finger in die Manteltasche.