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»Lass ihn gehen«, sagte sie.

Die Wachen öffneten die Zellentür und die Fee zog Will mit sich.

»Komm«, sagte sie zu ihm. »Es wird Zeit aufzuwachen. Du hast viel zu lange geschlafen.«

Clara sah ihnen nach, bis sie auf dem dunklen Korridor verschwunden waren. Dann wandte sie sich zu Jacob um. Vorwürfe, Verzweiflung, Schuld. Sie machten ihre Augen dunkler als die der Fee. Was habe ich getan?, fragten sie. Warum hast du es nicht verhindert? Hattest du nicht versprochen, ihn zu beschützen? Aber vielleicht las er auch nur seine eigenen Gedanken in ihrem Blick.

»Sollen wir den hier erschießen?«, fragte eine der Wachen und wies mit der Flinte auf ihn.

Hentzau zog die Pistole, die sie Jacob abgenommen hatten, aus dem Gürtel. Er öffnete das Kugellager und betrachtete es wie den Kern einer fremden Frucht.

»Das ist eine interessante Pistole. Wo hast du sie her?«

Jacob wandte ihm den Rücken zu. Schieß schon, dachte er.

Die Zelle, der Goyl, der hängende Palast. Alles um ihn herum schien unwirklich. Die Feen und verwunschenen Wälder, die Füchsin, die ein Mädchen war - alles nichts als die Fieberträume eines Zwölfjährigen. Jacob sah sich wieder in der Zimmertür seines Vaters stehen und Will neugierig an ihm vorbeistarren, auf die staubigen Flugzeugmodelle, die alten Revolver. Und den Spiegel.

»Dreh dich um.« Hentzaus Stimme klang ungeduldig. Ihr Zorn war so leicht zu wecken. Er brannte gleich unter ihrer steinernen Haut.

Jacob gehorchte trotzdem nicht. Und hörte den Goyl lachen. »Dieselbe Arroganz.«.

»Dein Bruder sieht ihm nicht ähnlich. Deshalb habe ich erst nicht begriffen, wieso dein Gesicht mir so bekannt vorkam. Du hast dieselben Augen, denselben Mund. Aber dein Vater konnte seine Angst nicht halb so gut verbergen wie du.«

Jacob drehte sich um. Du bist so ein Idiot, Jacob Reckless.

»Die Goyl haben die besseren Ingenieure.« Wie oft hatte er den Satz schon hinter dem Spiegel gehört - ob in Schwanstein oder als Seufzer von Offizieren der Kaiserin - und sich nie etwas dabei gedacht.

Den Vater gefunden, den Bruder verloren. »Wo ist er?«, fragte er.

Hentzau hob die Augenbrauen. »Ich hoffte, das könntest du mir sagen. Wir haben ihn vor fünf Jahren in Blenheim gefangen. Er sollte dort eine Brücke bauen, weil die Bewohner es leid waren, von den Loreley gefressen zu werden. Der Fluss wimmelte schon damals von ihnen, auch wenn gern erzählt wird, dass die Fee sie ausgesetzt hat. John Reckless, so nannte er sich. Er trug immer ein Foto von seinen Söhnen bei sich. Kami'en hat ihn eine Kamera bauen lassen, lange bevor die Erfinder der Kaiserin daraufkamen. Er hat uns viel beigebracht. Aber wer hätte gedacht, dass einem seiner Söhne eines Tages eine Jadehaut wächst!«

Hentzau strich der Pistole über den altmodischen Lauf. »Er war nicht halb so störrisch wie du, wenn man ihm Fragen stellte, und was wir von ihm gelernt haben, war sehr hilfreich in diesem Krieg. Doch dann ist er uns davongelaufen. Ich habe Monate nach ihm gesucht, ohne je eine Spur von ihm zu entdecken. Und nun habe ich stattdessen seine Söhne gefunden.«

Er wandte sich zu den Wachen um.

»Lasst ihn am Leben, bis ich von der Hochzeit zurück bin. Es gibt viel, was ich ihn fragen will.«

»Und das Mädchen?« Der Wächter, der auf Clara wies, hatte eine Haut aus Mondstein.

»Lasst sie ebenfalls am Leben«, antwortete Hentzau. »Und das Fuchsmädchen auch. Die zwei machen ihn wahrscheinlich schneller gesprächig als die Skorpione.«

Hentzaus Schritte verhallten auf dem Korridor und durch das vergitterte Fenster drang der Lärm der unterirdischen Stadt herein. Aber Jacob war weit fort im Zimmer seines Vaters und fuhr mit Kinderfingern über den Rahmen des Spiegels.

40

DIE STÄRKE DER ZWERGE

Jacob hörte Clara in der Dunkelheit atmen - und weinen. Sie waren immer noch durch das Gitter getrennt, aber der Gedanke an Will trennte sie mehr voneinander als die Eisenstäbe. In Jacobs Kopf verschmolzen die Küsse, die Clara ihm gegeben hatte, mit dem Kuss, der seinen Bruder geweckt hatte. Und immer wieder sah er, wie Will die Augen aufschlug und in Jade ertrank.

Er erstickte fast an seiner eigenen Verzweiflung. Hatte Miranda ihn in ihren Träumen beobachtet? Hatte sie gesehen, wie kläglich er versagt hatte? Clara lehnte den Kopf gegen die kalte Zellenwand und Jacob wollte sie umarmen und ihr die Tränen vom Gesicht wischen. Es ist nichts, Jacob. Nichts als das Lerchenwasser.

Hinter dem vergitterten Fenster schimmerte der hängende Palast wie eine verbotene Frucht. Vermutlich war Will inzwischen dort ...

Clara hob den Kopf. Ein dumpfes Scharren drang von draußen herein, als kletterte etwas die Mauer hinauf, und gegen das Gitter ihres Zellenfensters presste sich ein bärtiges Gesicht.

Valiants Bart sprießte schon wieder fast so üppig wie in den Tagen, in denen er ihn mit Stolz getragen hatte, und seine kurzen Finger bogen die Eisenstäbe mühelos auseinander.

»Euer Glück, dass die Goyl selten Zwerge einsperren!«, flüsterte er, während er sich durch die verbogenen Stäbe zwängte. »Die Kaiserin lässt allen Zellengittern Silber zusetzen.«

Er ließ sich geschickt wie ein Wiesel von dem Fenster herab und verbeugte sich vor Clara.

»Was starrst du mich so an?«, sagte er zu Jacob. »Es sah zu komisch aus, als die Schlangen dich gepackt haben. Absolut unbezahlbar.«

»Ich bin sicher, die Goyl haben dich sehr gut für den Anblick bezahlt!« Jacob kam auf die Füße und warf einen Blick auf den Korridor, aber es war keine der Wachen zu sehen. »Wo genau hast du mich verkauft? Als ich Stunden vor dem Juwelierladen gewartet habe? Oder bei dem Schneider, der den Palast beliefert?«

Valiant schüttelte nur den Kopf, während er die Eisenschellen an Claras Handgelenken ebenso selbstverständlich auseinanderbog wie die Gitter vor dem Fenster. »Hört Euch das an!«, flüsterte er Clara zu. »Er kann einfach niemandem trauen. Ich habe ihm gesagt, dass es eine idiotische Idee ist, wie eine Kakerlake am Palast ihres Königs herumzuklettern. Aber hat er auf mich gehört? Nein.«

Der Zwerg stemmte die Gitter zwischen den Zellen auseinander und blieb vor Jacob stehen. »Ich nehme an, du gibst mir auch die Schuld dafür, dass sie die Mädchen gefunden haben. Es war nicht meine Idee, sie allein in der Wildnis zu lassen. Und es war bestimmt nicht Evenaugh Valiant, der den Goyl erzählt hat, wo sie sind.«

Er beugte sich mit wissendem Grinsen zu Jacob herab. »Sie haben die Skorpione auf dich losgelassen, stimmt's? Ich gebe zu, das hätte ich gern gesehen.«

Aus einer der Nachbarzellen drangen Stimmen herein, und Clara wich unter das Fenster zurück, aber der Korridor blieb leer.

»Ich habe deinen Bruder gesehen«, flüsterte Valiant Jacob zu, während er ihm die Handschellen auseinanderbog. »Falls du ihn noch so nennen willst. Jeder Zentimeter Haut ein Goyl, und er folgt der Fee wie ein Hund. Sie hat ihn mitgenommen zur Hochzeit ihres Liebsten. Die Hälfte der Wachen ist mit ihnen gezogen. Nur deshalb konnte ich riskieren, hier einzusteigen.«

Clara stand da und wandte den Blick nicht von der Sandsteinbank, auf der Will gelegen hatte.

»Hinaus mit Euch, Gnädigste«, raunte Valiant und half ihr so mühelos zum Fenster hinauf, als wöge sie nicht mehr als ein Kind. »Da draußen wartet ein Seil, das das Klettern fast allein besorgt, und an diesem Gebäude gibt es keine Schlangen.«

»Was ist mit Fuchs?«, flüsterte Jacob.

Valiant wies zur Decke. »Sie ist gleich über euch.«

Die Fassade des Gefängnisstalaktiten war zerklüftet wie Tropfstein und bot reichlich Halt, aber Clara zitterte, als sie sich aus dem Fenster schob. Sie klammerte sich an die Brüstung, während ihre Füße Halt zwischen den Steinen suchten. Valiant dagegen krallte sich an die Mauer, als wäre er daran geboren worden.