»Ganz ruhig«, flüsterte er Clara zu, während er nach ihrem Arm griff. »Und einfach nicht nach unten sehen.«
Der Zwerg hatte sich von einer Brücke abgeseilt, die kaum mehr als ein eiserner Fußweg war. Das Rapunzelseil spannte sich straff zwischen ihren Eisenträgern und dem Gefängnisstalaktiten. Es waren zehn steile Meter.
»Valiant hat recht!«, flüsterte Jacob, während er Claras Hände um das Seil legte. »Sieh nur nach oben. Und bleib unter der Brücke, bis wir mit Fuchs nachkommen.«
Das Goldene Seil war kaum mehr als ein Spinnenfaden in der riesigen Höhle und Clara kletterte quälend langsam. Jacob folgte ihr mit den Augen, bis sie die Brücke erreicht hatte und sich an eine der Metallstreben klammerte. Zwerge und Goyl waren bekannt für ihre Kletterkünste, doch Jacob fühlte sich nicht einmal an Berghängen wohl, geschweige denn an der Fassade eines Baus, der Hunderte von Metern über einer feindlichen Stadt hing. Aber zum Glück mussten sie nicht weit klettern. Valiant hatte recht. Sie hatten Fuchs gleich über ihnen eingesperrt.
Sie war in Menschengestalt, und als Jacob sich neben sie kniete, schlang sie ihm die Arme um den Hals und weinte wie ein Kind, während Valiant ihr die Ketten löste.
»Sie haben gesagt, sie ziehen mir das Fell ab, wenn ich mich verwandle!«, schluchzte sie. Von ihrem Zorn war nichts mehr zu spüren.
»Es ist gut!«, flüsterte Jacob und strich ihr über das rote Haar. »Alles wird gut.« Wirklich, Jacob? Wie?
Natürlich las Fuchs ihm die Verzweiflung vom Gesicht. »Du hast Will nicht gefunden«, flüsterte sie. »Doch. Aber er ist fort.«
Auf dem Korridor schlug eine Tür zu. Valiant spannte die Flinte, doch die Wächter zerrten einen anderen Gefangenen auf den Gang hinaus.
Fuchs kletterte ebenso gut wie der Zwerg, und Clara sah sehr erleichtert aus, als sie und Jacob sich neben ihr auf den Eisenträger zogen. Valiant schwang sich schon über das Brückengeländer, während Jacob das Rapunzelseil zwischen den Fingern rieb, bis es sich wieder in nichts als ein goldenes Haar verwandelte. Es verstrich eine Ewigkeit, bis der Zwerg sie zu sich hinaufwinkte. Unter ihnen marschierte ein Trupp Goyl über eine andere Brücke und ein Güterzug keuchte beim Überqueren des Abgrunds schmutzigen Rauch in die gewaltige Höhle. Bis auf zwei Schächte, durch die ein Schatten von Tageslicht fiel, war nichts zu entdecken, wodurch die Goyl sich der Abgase entledigten, die ihre Welt produzierte. Dein Vater wird ihnen wohl auch das beigebracht haben, Jacob, dachte er, während er Valiant über die eisernen Brückenplanken folgte. Aber er schob den Gedanken fort. Er wollte nicht an seinen Vater denken. Er wollte nicht einmal an Will denken. Er wollte zurück zu der Insel und wieder vergessen, alles vergessen, die Jade, das Lerchenwasser und die eisernen Brücken, die aussahen, als hätte John Reckless seine Signatur auf dieser Welt hinterlassen.
»Was ist mit Pferden?«, fragte Jacob den Zwerg, als sie sich in einem der Bogengänge verbargen, die sich an der Höhlenwand entlangzogen.
»Vergiss es«, knurrte Valiant. »Die Ställe sind zu nah beim Haupteingang. Zu viele Wachen.«
»Das heißt, du willst zu Fuß durch die Berge?«
»Hast du einen besseren Plan?«, zischte der Zwerg zurück.
Nein, hatte er nicht. Und wenn sie diesmal an den blinden Wächtern vorbeikamen, hatten sie nur Valiants Flinte und das Messer, das er Jacob mitgebracht hatte - nicht ohne dafür einen Goldtaler zu verlangen.
Fuchs verwandelte sich neben ihm wieder in die Füchsin, und Clara lehnte sich gegen eine der Säulen und blickte in die Tiefe, als wäre sie nicht wirklich bei ihnen. Vielleicht war sie wieder hinter dem Spiegel und saß mit Will in dem schäbigen Krankenhauscafe. Es war ein weiter Weg dorthin zurück, und jede Meile würde sie daran erinnern, dass Will nicht bei ihnen war.
Fenster und Türen hinter Vorhängen aus Sandstein. Häuser wie Schwalbennester. Goldaugen überall. Um nicht zu sehr aufzufallen, nahm Valiant zuerst Clara mit sich, während Jacob sich mit Fuchs zwischen den Häusern verbarg. Dann holte der Zwerg sie nach, und Clara versteckte sich in irgendeinem dunklen Winkel. Hinunter waren die steilen Straßen und Treppen für Menschen noch unbegehbarer als hinauf.
Valiant hatte den Buchstaben auf Jacobs Stirn nachgezogen und ging mit so selbstzufriedener Miene an Claras Seite, als führte er den Goyl seine frisch angetraute Frau vor. Wie auf dem Hinweg begegneten sie vielen Soldaten, und Jacob erwartete jedes Mal, wenn sie sich an einem vorbeidrängten, einen scharfen Zuruf oder den Griff einer steinernen Hand. Aber niemand hielt sie an, und nach ein paar endlosen Stunden erreichten sie endlich die Öffnung, durch die sie zum ersten Mal in die Höhle geblickt hatten. Erst in dem Tunnel dahinter verließ sie das Glück.
Sie waren so erschöpft, dass sie zusammenblieben. Jacob stützte Clara, auch wenn ihm die Blicke, die Fuchs ihm zuwarf, nicht entgingen. Die ersten Goyl, die ihnen begegneten, kamen von der Jagd. Sie waren zu sechst und hatten eine Meute zahmer Wölfe dabei, die ihnen selbst in die tiefsten Höhlen folgten. Zwei Knechte führten die Pferde mit der Beute: drei der großen Echsen, deren Stacheln die Goylkavallerie auf den Helmen trug, und sechs Fledermäuse, deren Hirn angeblich eine Delikatesse war. Keiner der Jäger warf Jacob mehr als einen schnellen Blick zu, als sie ihre Pferde an ihm vorbeitrieben. Doch die Goylpatrouille, die plötzlich aus einem der Seitentunnel auftauchte, war neugieriger. Es waren drei Soldaten. Einer von ihnen war ein Alabastergoyl - die Hautfarbe, die viele ihrer Spione hatten.
Sobald Valiant ihnen den Händler nannte, dem Jacob angeblich gehörte, wechselten sie einen raschen Blick. Der Alabastergoyl griff nach der Pistole, während er Valiant eröffnete, dass sein Handelspartner wegen illegaler Mineraliengeschäfte verhaftet worden war, aber der Zwerg war schneller. Er schoss den Alabastergoyl vom Pferd und Jacob warf dem zweiten das Messer in die Brust. Valiant hatte es in einem der Läden auf der Palastbrücke gekauft und die Klinge fuhr ohne Mühe durch seine Zitrinhaut. Jacob schauderte, als er begriff, wie sehr er sie alle töten wollte. Fuchs sprang dem Pferd des dritten zwischen die Beine, doch der Goyl brachte es unter Kontrolle und galoppierte davon, bevor Jacob einem der Toten die Waffe aus dem Gürtel ziehen konnte.
Valiant stieß einen Fluch aus, den selbst Jacob noch nie gehört hatte, und während die Hufschläge des galoppierenden Pferdes noch in der Dunkelheit verhallten, erhob sich ein Ton, der den Zwerg abrupt verstummen ließ. Er klang, als begännen tausend mechanische Grillen in den Felsen zu zirpen, und um sie her wurden die Steinwände lebendig. Käfer krochen aus Rissen und Löchern, Tausendfüßler, Spinnen, Kakerlaken. Motten schwirrten ihnen ins Gesicht, Mücken, Schnaken, Drachenfliegen. Sie setzten sich ihnen ins Haar und krochen ihnen in die Kleider. Der Alarm der Goyl ließ die Erde atmen, und ihre felsige Haut atmete Leben aus, krabbelnd, flatternd und beißend.
Sie stolperten weiter, fast blind in der Dunkelheit, um sich schlagend, und zertraten, was ihnen entgegenkroch. Keiner von ihnen wusste noch, wo sie hergekommen waren oder in welcher Richtung der Weg nach draußen lag. Um sie her zirpten weiter die Wände und das Licht der Taschenlampe war ein tastender Finger in der Dunkelheit. Jacob glaubte, Hufe in der Ferne zu hören, Stimmen. Sie steckten in der Falle, einer endlos verzweigten Falle, und die Angst ließ ihn die Verzweiflung vergessen, die er in der Zelle gespürt hatte, und weckte wieder den Willen zu leben. Nur leben, nichts weiter, und wieder ans Licht kommen. Luft atmen.
Fuchs bellte und Jacob sah sie in einem Seitengang verschwinden. Ein kühler Windzug strich ihm übers Gesicht, als er Clara mit sich zerrte. Licht fiel eine weite Treppe hinunter, und da waren sie: die Drachen, von denen der Fährmann erzählt hatte. Aber sie waren aus Metall und Holz und die erwachsenen Brüder der Modelle, die verstaubt über dem Schreibtisch von John Reckless hingen.