41
FLÜGEL
Der Alarm war auch in der Flugzeughöhle zu hören, aber dort kroch nichts aus den Wänden. Sie waren versiegelt und begradigt und durch einen weiten Tunnel fiel eine Ahnung von Tageslicht. Zwischen den Flugzeugen standen nur zwei unbewaffnete Goyclass="underline" Mechaniker, keine Soldaten. Sie hoben die Hände, sobald Valiant die Flinte auf sie richtete.
Auf ihren Gesichtern war die Todesangst ebenso deutlich zu sehen wie ihr berüchtigter Zorn. Jacob fesselte sie mit Kabeln, die Clara zwischen den Flugzeugen fand, aber einer riss sich los und holte mit den Krallen aus. Er ließ die Hände sinken, sobald Valiant die Flinte spannte, aber Jacob konnte nur an die Klauen denken, die Will den Nacken aufgerissen hatten. Er hatte nie Spaß am Töten gehabt, aber die Verzweiflung, die er spürte, seit Will der Dunklen Fee gefolgt war, ließ ihn Angst vor den eigenen Händen haben.
»Nein«, flüsterte Clara, während sie ihm das Messer aus der Hand nahm, und für einen Moment verband es sie stärker als das Lerchenwasser, dass sie die Dunkelheit in ihm verstand.
Valiant hatte die Goyl vergessen. Er hatte alles vergessen. Der Zwerg schien nichts mehr zu sehen und zu hören, weder das Zirpen in den Wänden noch die Stimmen, die draußen immer lauter durch die Tunnel schallten. Er hatte nur Augen für die drei Flugzeuge.
»Oh, das ist wunderbar!«, murmelte er. »Viel wunderbarer als ein stinkender Drache. Aber wie fliegen sie und was hat der Goyl mit ihnen vor?«
»Sie spucken Feuer«, sagte Jacob. »Wie alle Drachen.«
Es waren Doppeldecker, wie man sie im frühen zwanzigsten Jahrhundert in Europa gebaut hatte. Ein gewaltiger Sprung in die Zukunft für die Spiegelwelt - weiter als alles, was in den Fabriken von Schwanstein oder von den Ingenieuren der Kaiserin entwickelt wurde. Zwei der Maschinen glichen den Einsitzern, die die Kampfpiloten im Ersten Weltkrieg geflogen hatten, aber die dritte glich der Junkers J 4, einem Zweisitzer, der als Bomber und Erkundungsflugzeug konstruiert war. Jacob hatte ein Modell desselben Flugzeugs mit seinem Vater gebaut.
Fuchs ließ ihn nicht aus den Augen, als er in das enge Cockpit kletterte.
»Komm da runter!«, rief sie ihm zu. »Lass es uns mit dem Tunnel versuchen. Er führt ins Freie. Ich rieche es!«
Aber Jacob strich über die Kontrollinstrumente und prüfte die Ventile. Die Junkers war relativ leicht zu fliegen. Nur am Boden war sie plump und schwierig zu lenken. Das weißt du aus einem Euch, Jacob, und von Spielen mit Modellflugzeugen. Du kannst nicht ernsthaft glauben, dass du sie deshalb fliegen kannst. Er war ein paarmal mit seinem Vater geflogen, als John Reckless der anderen Welt noch in einem Sportflugzeug statt durch den Spiegel entflohen war. Aber das war so lange her, dass es ebenso unwirklich schien wie die Tatsache, dass er einmal einen Vater gehabt hatte.
Der Alarm schrillte durch die Höhle, als hätte man Grillen in einer frisch gemähten Wiese aufgescheucht.
Jacob pumpte den Benzindruck hoch. Wo war die Zündung?
Valiant blickte entgeistert zu ihm hinauf.
»Warte! Du kannst dieses Ding fliegen?«
»Sicher!« Jacob hätte sich selbst fast überzeugt, so selbstverständlich kam ihm die Antwort über die Lippen.
»Zum Teufel, woher?«
Fuchs bellte warnend zu Jacob hinauf.
Die Stimmen draußen wurden lauter. Sie kamen.
Clara hob Valiant hastig auf eine der Tragflächen. Fuchs wich vor dem Flugzeug zurück, aber Clara nahm sie kurzerhand auf den Arm und kletterte mit ihr zum Cockpit hinauf.
Jacobs Finger fanden den Anzünder.
Der Motor sprang an. Der Propeller begann sich zu drehen, und während Jacob noch einmal durch die Kontrollinstrumente ging, glaubte er, die Hände seines Vaters bei denselben Handgriffen zu sehen. In einer anderen Welt. Einem anderen Leben. »Sieh dir das an, Jacob! Ein Aluminiumrumpf auf einem Metallskelett. Nur das Flugruder ist noch aus Holz.« John Reckless hatte nie leidenschaftlicher geklungen, als wenn er über alte Flugzeuge gesprochen hatte. Oder über Waffen.
Fuchs sprang zu Jacob nach vorn und duckte sich zitternd hinter seinen Beinen.
Maschinen. Metallener Lärm. Gebaute Bewegung. Mechanischer Zauber für die, denen kein Fell und keine Flügel wuchsen.
Jacob steuerte das Flugzeug auf den Tunnel zu. Ja, es war plump am Boden. Er konnte nur hoffen, dass es besser flog.
Schüsse hallten ihnen nach, als die Maschine in den Tunnel rollte. Der Lärm des Motors fing sich zwischen den Felswänden. Öl spritzte Jacob ins Gesicht und ein Flügel streifte fast die Felsen. Schneller, Jacob. Er beschleunigte, auch wenn es dadurch nicht leichter wurde, den Tunnelwänden fernzubleiben, und atmete auf, als die schwerfällige Maschine hinaus auf eine schotterbedeckte Startbahn schoss, über der eine blasse Sonne zwischen regenschweren Wolken trieb. Der Motorenlärm zerriss die Stille, und ein Schwarm Krähen erhob sich aus den nahen Bäumen, aber zum Glück flogen sie ihm nicht in den Propeller.
Zieh sie hoch, Jacob. Fuchs lässt sich ein Fell wachsen, dein Bruder trägt eine Haut aus Stein und du hast nun Flügel.
Maschinenzauber.
Sein Vater hatte Drachen aus Metall hinter den Spiegel gebracht. Und wie damals, als Jacob den Bogen Papier in einem seiner Bücher gefunden hatte, wollte der Gedanke nicht weichen, dass John Reckless seinem ältesten Sohn erneut etwas hinterlassen hatte.
Das Flugzeug stieg höher und höher, und Jacob sah unter sich Straßen und Gleise, die durch massive Torbögen im Innern eines Berges verschwanden. Noch vor wenigen Jahren war der Eingang der Goylfestung nur ein natürlicher Spalt am Fuß des Berges gewesen. Doch inzwischen schmückten Echsen aus Jade die Tore, und in die Bergflanke war das Wappen des Königs eingelassen, das Kami'en erst vor einem Jahr zu dem seinen erklärt hatte: der Umriss einer schwarzen Motte in einem Feld aus Karneol. Die Sonne zeichnete ihr den Schatten des Flugzeugs unter die Flügel, als Jacob an dem Wappen vorbeiflog.
Er stahl dem König der Goyl seinen Drachen. Aber auch das gab ihm nicht seinen Bruder zurück.
42
ZWEI WEGE
Zurück. Über den Fluss, auf dem sie fast die Loreley gefressen hatten, die Berge, in denen Jacob gestorben war, das geplünderte Land, in dem die Prinzessin zwischen Rosen schlief und Will die Goyl zum ersten Mal wie seinesgleichen angestarrt hatte ... Die Junkers brachte die Meilen, für die sie mehr als eine Woche gebraucht hatten, in wenigen Stunden hinter sich. Aber Jacob kam der Weg trotzdem ebenso lang vor, denn jede Meile machte es unwiderruflicher, dass er keinen Bruder mehr hatte.
»Wo ist Will, Jacob?« Ms Kind hatte er ihn mehr als einmal verloren. Beim Einkaufen oder im Park, weil es ihm peinlich gewesen war, die Hand seines kleinen Bruders zu halten. Will war fort gewesen, sobald man seine kurzen Finger losließ. Einem Eichhörnchen nach, einem streunenden Hund, einer Krähe ... Einmal hatte Jacob Stunden nach ihm gesucht, bis er Will mit verheultem Gesicht vor einem Ladeneingang gefunden hatte. Aber diesmal gab es keinen Ort, an dem er suchen konnte, keinen Weg, den er zurückgehen konnte, um seinen Fehler ungeschehen zu machen, den einen Moment der Unachtsamkeit.
Jacob folgte einer Gleisstrecke nach Osten, in der Hoffnung, dass sie Richtung Schwanstein führte. Es war bitterkalt in dem offenen Flugzeug, obwohl er nicht allzu hoch flog, und der Wind fuhr immer wieder so tückisch unter die aluminiumverkleideten Flügel, dass Jacob die Selbstvorwürfe vergaß und nur mit der schwankenden Maschine kämpfte. Hinter ihm begann der Zwerg jedes Mal zu fluchen, wenn das Flugzeug an Höhe verlor, auch wenn er es bestimmt genoss, sich den engen Rücksitz mit Clara zu teilen, und Fuchs ließ immer öfter ein klägliches Jaulen hören. Nur von Clara kam kein Laut, als ließe sie den Wind alles fortwehen, was in den letzten Tagen passiert war.