Fliegen.
Es war, als wären beide Welten verschmolzen. Als gäbe es den Spiegel nicht mehr. Wenn aus den Drachen Maschinen wurden, was kam als Nächstes?
Es war nicht gut, solche Gedanken hinter dem Steuerknüppel eines Doppeldeckers zu haben, schon gar nicht, wenn man zum ersten Mal dahintersaß. Der aufsteigende Dampf einer Lok nahm Jacob die Sicht. Er zog das Flugzeug zu schnell hoch, und die Junkers stützte auf die Erde zu, als hätte sie sich plötzlich daran erinnert, dass sie eigentlich aus einer anderen Welt stammte. Fuchs duckte sich winselnd und Valiants Flüche übertönten den spuckenden Motor.
Natürlich. Wie hast du glauben können, dass auf etwas Verlass ist, das von deinem Vater stammt, Jacob?
Er spürte, wie Clara die Finger in seine Schulter grub. Was würde sein letzter Gedanke sein? Die Erinnerung an Wills Jadegesicht oder die toten Lerchen?
Er fand es nicht heraus.
Ein Windstoß fing den Fall der stöhnenden Maschine auf, und Jacob konnte sie abfangen, bevor sie die ersten Baumwipfel streifte. Das Flugzeug schlingerte wie ein angeschossener Vogel, aber er schaffte es, die Räder auf einer morastigen Anhöhe aufzusetzen. Das Ruder zerbrach bei dem Aufprall. Einer der Flügel zersplitterte an einem Baum, und der Rumpf riss auf, als es über den steinigen Grund schlitterte, aber schließlich kam es zum Halten. Der Motor erstarb mit einem letzten Röcheln - und sie lebten noch.
Valiant kletterte stöhnend auf die Tragfläche und übergab sich unter einem Baum. Der Zwerg hatte sich die Nase aufgeschlagen, und Clara hatte ein Zweig die Hand verletzt, aber ansonsten waren sie unversehrt. Fuchs war so glücklich, festen Boden unter den Pfoten zu spüren, dass sie dem ersten Kaninchen nachsprang, das den Kopf aus dem Gras hob.
Die Füchsin warf Jacob einen erleichterten Blick zu, als sie zu ihrer Linken den Hügel mit der Ruine bemerkte. Sie waren tatsächlich nicht weit entfernt von Schwanstein. Aber Jacob starrte auf die Gleise, die sich am Fuß der Anhöhe wie eine Eisennaht nach Süden zogen, nicht bloß nach Schwanstein, sondern weiter, sehr viel weiter ... bis nach Vena, in die Hauptstadt der Kaiserin. Er glaubte, die fünf Brücken vor sich zu sehen, den Palast, die Türme der Kathedrale ...
»Reckless! Hörst du mir überhaupt zu?« Valiant wischte sich mit dem Ärmel das Blut von der Nase. »Wie weit ist es noch?«
»Was?« Jacob starrte immer noch auf die Gleise.
»Zu deinem Haus. Mein Goldbaum!«
Jacob antwortete nicht. Er blickte nach Osten, wo der Zug, der sie hatte abstürzen lassen, zwischen den Hügeln auftauchte. Weißer Rauch und schwarzes Eisen.
»Fuchs.« Er kniete sich neben sie. Ihr Fell war immer noch zerzaust vom Wind. »Ich will, dass du Clara zu der Ruine zurückbringst. Ich komm in ein paar Tagen nach.«
Sie fragte ihn nicht, wohin er wollte. Fuchs blickte ihn an, als wüsste sie es seit Langem. So war es schon immer gewesen. Sie kannte ihn besser als er sich selbst. Aber Jacob sah ihr an, dass sie es müde war, Angst um ihn zu haben. Und der Zorn war zurück. Sie hatte ihm weder das Lerchenwasser vergeben noch die Tatsache, dass er ohne sie in die Festung gegangen war. Und nun würde er sie wieder zurücklassen. Gib endlich auf!, sagten ihre Augen.
Wie, Fuchs?
Jacob richtete sich auf.
Der Zug wuchs und fraß die Wiesen und Felder in sich hinein. Fuchs sah ihm entgegen, als säße der Tod selbst darin.
Zehn Stunden bis nach Vena. Und dann, Jacob? Er wusste nicht einmal, wann genau die Hochzeit war. Aber er wollte nicht denken. Seine Gedanken waren aus Jade.
Er stolperte die Anhöhe hinunter. Valiant rief ihm entgeistert nach, aber Jacob blickte sich nicht um. Die Luft füllte sich mit Rauch und dem Lärm des Zuges. Er rannte schneller, klammerte sich an Eisen, fand Halt auf einem Trittbrett.
Zehn Stunden. Zeit zu schlafen und alles zu vergessen. Bis auf das, was die Rote Fee ihm über ihre dunkle Schwester verraten hatte.
43
HUND UND WOLF
Tramwagen, Kutschen, Karren, Reiter. Fabrikarbeiter, Bettler und Bürger. Dienstmädchen in gestärkten Schürzen, Soldaten und Zwerge, die sich von ihren menschlichen Dienern durch das Gedränge tragen ließen. Jacob hatte die Straßen von Vena noch nie so überlaufen gesehen, und er brauchte fast eine Stunde vom Bahnhof zu dem Hotel, in dem er immer abstieg, wenn er in die Hauptstadt kam. Die Zimmer hatten mehr mit der Schatzkammer eines Blaubarts gemein als mit den kargen Kammern in Chanutes Gasthaus, aber Jacob gefiel es, ab und zu in einem Himmelbett zu schlafen. Außerdem bezahlte er eins der Zimmermädchen dafür, dass sie immer ein paar frische Kleider für ihn bereithielt, die selbst für eine Audienz im Palast gut genug waren. Das Mädchen verzog keine Miene, als er ihm seine mit Blut und Schmutz bedeckten Kleider gab. Sie war solche Flecken von ihm gewohnt.
Die Glocken der Stadt schlugen zwölf, als Jacob sich auf den Weg zum Palast machte. An vielen Hauswänden waren Anti-Goyl-Parolen auf die Plakate mit dem Foto des Brautpaars geschmiert. Sie wetteiferten mit den pompösen Schlagzeilen, die die Zeitungsverkäufer an jeder Ecke verkündeten: Ewiger Frieden ... Historisches Ereignis ... Zwei mächtige Reiche ... Unsere Völker ... Dieselbe Vorliebe für große Worte auf beiden Seiten des Spiegels.
Jacob hatte dem Hoffotografen, der das Brautpaar verewigt hatte, vor einem Jahr selbst Modell gestanden. Der Mann verstand sein Handwerk, aber die Prinzessin machte es ihm nicht leicht. Die Schönheit, zu der die Feenlilie Amalie von Austrien verholfen hatte, war kalt wie Porzellan, und ihr Gesicht war auch im echten Leben so ausdruckslos wie auf den Plakaten. Ihr Bräutigam dagegen sah selbst auf den Fotos aus wie steingewordenes Feuer.
Die Menschenmenge vor dem Palast war so groß, dass Jacob Mühe hatte, sich zu dem schmiedeeisernen Tor durchzudrängen. Die kaiserlichen Garden richteten die Bajonette auf ihn, sobald er davor stehen blieb, doch zum Glück entdeckte er unter einem der Federbuschhelme ein Gesicht, das er kannte: Justus Kronsberg, jüngster Sohn eines Landadligen. Seine Familie verdankte ihren Reichtum der Tatsache, dass in den Wiesen seines Vaters Schwärme der Elfen lebten, deren Garn und Glas so viele Kleider am Hof schmückten.
Die Kaiserin ließ für die kaiserliche Garde nur Soldaten zu, die mindestens zwei Meter groß waren, und der jüngste Kronsberg-Sohn war keine Ausnahme. Justus Kronsberg überragte Jacob um einen halben Kopf, den Helm nicht mitgerechnet, aber sein spärlicher Schnurrbart verbarg nicht, dass er immer noch das Gesicht eines Kindes hatte.
Jacob hatte einen von Justus' Brüdern vor Jahren vor einer Hexe beschützt, die sehr verärgert darüber gewesen war, dass er ihre Tochter zurückgewiesen hatte. Der Vater sandte ihm zum Dank immer noch jedes Jahr so viel Elfenglas, dass es Knöpfe für all seine Kleider lieferte. Dass es vor Stilzen und Däumlingen schützte, hatte sich allerdings nicht bewahrheitet.
»Jacob Reckless!« Der jüngste Kronsberg sprach den weichen Dialekt, den man in den Dörfern nahe der Hauptstadt hörte. »Mir hat erst gestern jemand erzählt, die Goyl hätten dich erschlagen.«
»Tatsächlich?«
Jacob griff sich unwillkürlich an die Brust. Der Mottenabdruck färbte ihm immer noch die Haut.
»Wo haben sie den Bräutigam einquartiert?«, fragte er, als Kronsberg ihm das Tor öffnete. »Im Nordflügel?«
Die anderen Wachen musterten ihn misstrauisch.
»Wo sonst?« Kronsberg senkte die Stimme. »Kommst du von einem Auftrag zurück? Ich habe gehört, dass die Kaiserin dreißig Goldtaler auf einen Wünschsack ausgesetzt hat, seit der Krumme König sich damit brüstet, einen zu besitzen.«