Von ferne hörte man die Geräusche der Stadt, Kutschen und Pferde, Betrunkene, Straßenverkäufer und die Rufe der Nachtwächter. Aber hinter den Gartenmauern rauschten die Brunnen der Kaiserin, und in den Bäumen sangen die künstlichen Nachtigallen, die Therese zu ihrem letzten Geburtstag von einer ihrer Schwestern bekommen hatte. Im Palast brannte hinter einigen Fenstern noch Licht, doch auf den Baikonen und Treppen war es gespenstisch still für den Vorabend einer kaiserlichen Hochzeit, und Jacob versuchte, sich nicht zu fragen, wo Will gerade war.
Es war eine kalte Nacht, und seine Stiefel hinterließen dunkle Spuren auf den raureifweißen Rasenflächen, aber das Gras verschluckte das Geräusch seiner Schritte weit besser als die kiesbestreuten Wege. Jacob hielt nicht Ausschau nach den Spuren der Dunklen Fee. Er wusste, wohin sie gegangen war. Im Herzen der kaiserlichen Gärten lag ein Teich, dessen Oberfläche so dicht mit Lilien bedeckt war wie der See der Feen, und wie dort beugten sich Weiden über das dunkle Wasser.
Die Fee stand am Ufer und das Licht der Sterne haftete an ihrem Haar. Die zwei Monde liebkosten ihr die Haut, und Jacob spürte, wie sein Hass in ihrer Schönheit ertrank. Aber die Erinnerung an Wills versteinertes Gesicht brachte ihn schnell zurück.
Sie fuhr herum, als sie seine Schritte hörte, und er schlug den schwarzen Mantel zurück, damit das weiße Hemd darunter sichtbar wurde, wie ihre Schwester es ihm geraten hatte. »Weiß wie Schnee. Rot wie Blut. Schwarz wie Ebenholz.« Eine Farbe fehlte noch.
Die Dunkle Fee löste mit einem raschen Griff ihr Haar und ihre Motten schwärmten auf ihn zu. Aber Jacob zog sich das Messer schon über den Arm und wischte das Blut auf das weiße Hemd. Die Motten taumelten zurück, als hätte er ihnen die Flügel verbrannt.
»Weiß, rot, schwarz ...«, sagte er, während er die Messerklinge am Ärmel abstrich. »Schneewittchenfarben. So hat mein Bruder sie immer genannt. Er mochte das Märchen sehr. Aber wer hätte gedacht, dass sie so mächtig sind?«
»Woher weißt du von den drei Farben?« Die Fee machte einen Schritt zurück.
»Deine Schwester hat sie mir verraten.«
»Sie verrät dir unsere Geheimnisse als Dank dafür, dass du sie verlassen hast?«
Sieh sie nicht an, Jacob. Sie ist zu schön.
Die Fee streifte die Schuhe ab und trat näher ans Wasser. Jacob spürte ihre Macht so deutlich wie die Kälte der Nacht.
»Offenbar ist das, was du getan hast, schwerer zu verzeihen«, sagte er.
»Ja, sie sind immer noch empört darüber, dass ich fortgegangen bin.« Sie lachte leise und die Motten schlüpften ihr zurück ins Haar. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, was meine Schwester damit zu gewinnen glaubt, dass sie dir von den drei Farben erzählt. Als ob ich die Motten brauchte, um dich zu töten.«
Sie trat zurück, bis das Wasser des Teichs sich über ihren nackten Füßen schloss, und die Nacht begann zu flirren, als verwandelte die Luft selbst sich in schwarzes Wasser.
Jacob spürte, wie ihm das Atmen schwer wurde.
»Ich will meinen Bruder zurück.«
»Warum? Ich habe ihn nur zu dem gemacht, der er immer sein sollte.« Die Fee strich sich das lange Haar zurück. »Weißt du, was ich glaube? Meine Schwester ist immer noch zu verliebt in dich, um dich selbst zu töten. Also hat sie dich zu mir geschickt!«
Er fühlte, wie ihre Schönheit ihn alles vergessen ließ, den Hass, der ihn hergebracht hatte, die Liebe zu seinem Bruder und sich selbst.
Sieh sie nicht an, Jacob!
Er umklammerte seinen verletzten Arm, damit der Schmerz ihn schützte. Der Schmerz vom Schwert seines Bruders. Er drückte so fest zu, dass ihm Blut über die Hand rann, und sah erneut Wills hassverzerrtes Gesicht. Sein verlorener Bruder.
Die Dunkle Fee trat auf ihn zu.
Ja. Komm näher.
»Bist du wirklich so arrogant zu glauben, dass du herkommen und mir Forderungen stellen kannst?«, sagte sie und blieb dicht vor ihm stehen. »Denkst du, weil eine Fee dir nicht widerstehen konnte, ist es um uns alle geschehen?«
»Nein. Das ist es nicht«, sagte Jacob.
Ihre Augen weiteten sich, als er nach ihrem weißen Arm griff. Die Nacht spann sich ihm wie Spinnweben um den Mund, aber er sprach ihren Namen aus, bevor sie ihm die Zunge lähmen konnte.
Sie stieß ihn zurück und hob die Hände, als könnte sie die verhängnisvollen Silben noch abwehren. Doch ihre Finger verwandelten sich schon in Zweige und ihre Füße trieben Wurzeln. Ihr Haar wurde zu Blättern, ihre Haut zu Rinde, und ihr Aufschrei klang wie der Wind im Laub einer Weide.
»Es ist ein schöner Name«, sagte Jacob, während er zwischen die herabhängenden Zweige trat. »Zu schade, dass man ihn nur in eurem Reich aussprechen darf. Hast du ihn je deinem Liebhaber verraten?«
Die Weide ächzte, und ihr Stamm beugte sich über den Teich, als weinte sie herab auf ihr Spiegelbild.
»Du hast meinem Bruder eine Haut aus Stein gegeben. Ich gebe dir eine aus Rinde. Das klingt nach einem fairen Handel, oder?« Jacob schloss den Mantel über dem blutverschmierten Hemd. »Ich werde Will jetzt suchen gehen. Und wenn seine Haut immer noch aus Jade ist, komme ich zurück und lege Feuer an deine Wurzeln.«
Jacob konnte nicht sagen, woher ihre Stimme kam. Vielleicht war sie nur in seinem Kopf, aber er hörte sie so deutlich, als flüsterte sie ihm jedes Wort ins Ohr: »Lass mich frei und ich gebe deinem Bruder seine Menschenhaut zurück.«
»Deine Schwester hat mir gesagt, dass du das versprechen wirst. Und dass ich dir nicht glauben soll.«
»Bring ihn zu mir und ich beweise es dir!«
»Deine Schwester hat mir geraten, noch etwas anderes zu tun.« Jacob griff in die Zweige und pflückte eine Handvoll der silbrigen Blätter.
Die Weide seufzte, als er sie in sein Taschentuch einschlug.
»Ich sollte diese Blätter deiner Schwester bringen«, sagte Jacob. »Aber ich glaube, ich werde sie behalten und gegen die Haut meines Bruders eintauschen.«
Der Teich war ein Spiegel aus Silber, und die Hand, mit der er den Arm der Fee berührt hatte, fühlte sich an wie erfroren.
»Ich bringe ihn zu dir«, sagte er. »Noch heute Nacht.«
Aber durch das Laub der Weide lief ein Schauder.
»Nein!«, flüsterten die Blätter. »Kami'en braucht ihn! Er muss an seiner Seite bleiben, bis die Hochzeit vorbei ist.«
»Warum?«
»Versprich es, oder ich werde dir nicht helfen.« Jacob hörte ihre Stimme auch noch, als der Teich längst hinter den Hecken verschwunden war. »Versprich es!« Immer wieder.
47
DIE WUNDERKAMMERN DER KAISERIN
Ich bringe ihn zu dir. Aber wie? Jacob stand bestimmt eine Stunde hinter den Stallungen, die zwischen den Gärten und dem Palast lagen, und starrte zu den Fenstern des Nordflügels hinauf. Dort brannte immer noch Lichterzenlicht, wie es Goylaugen gefiel -, und einmal glaubte er, den König hinter einem der Fenster stehen zu sehen. Er wartete auf seine Geliebte. Am Vorabend seiner Hochzeit.
Ich bringe ihn zu dir. Aber wie, Jacob?
Es war ein Kinderspielzeug, das ihm die Antwort gab.
Ein schmutziger Ball, der zwischen den Eimern lag, mit denen die Knechte die Pferde tränkten. Natürlich, Jacob. Der Goldene Ball.
Er selbst hatte ihn vor drei Jahren an die Kaiserin verkauft. Der Ball war einer ihrer liebsten Schätze und lag in ihren Wunderkammern. Aber kein Wächter würde Jacob noch einmal in den Palast lassen und den Schwindschleim hatten die Goyl ihm abgenommen.