Jacob blickte zur Kaiserin hinüber. Vier ihrer Garden umringten die Loge. Außerdem waren die Zwerge bei ihr - und ihr Adjutant. Donnersmarck flüsterte der Kaiserin etwas zu und blickte zur Orgelempore hinauf. Aber Jacob begriff immer noch nicht. Blind und taub, Jacob.
Die Prinzessin hatte kaum ein Dutzend Schritte gemacht, als der erste Schuss fiel. Er kam von einem verdeckten Schützen auf der Orgelempore und galt dem König, aber Will stieß ihn rechtzeitig zur Seite. Der zweite Schuss verfehlte Will selbst nur knapp. Der dritte traf Hentzau. Und die Dunkle Fee fesselte eine Haut aus Weidenrinde in den kaiserlichen Gärten. Gut gemacht, Jacob. Sie haben dich benutzt wie einen abgerichteten Hund.
Die Kaiserin hatte ihre Attentatspläne vor ihrer Tochter offenbar ebenso geheim gehalten wie vor ihren Ministern, die verzweifelt Schutz hinter der dünnen Holzverkleidung ihrer Bänke suchten. Die Prinzessin stand da und starrte fassungslos zu ihrer Mutter hinauf. Der General, der sie hereingeführt hatte, wollte sie mit sich zerren, doch sie wurden beide mitgerissen von den schreienden Gästen, die aus den Bänken drängten. Wo wollten sie hin? Das Eingangsportal war längst verriegelt. Offensichtlich hoffte die Kaiserin, sich bei dieser Hochzeit nicht nur vom König der Goyl, sondern auch von ein paar unliebsamen Untertanen zu befreien.
Fuchs und Clara waren nirgends zu sehen, ebenso wenig wie Valiant, aber Will stand immer noch schützend vor dem König. Die Leibwächter hatten einen Ring aus grauen Uniformen um Kami'en geschlossen. Die anderen Goyl versuchten, sich zu ihnen vorzukämpfen, doch sie fielen unter den Schüssen der Kaiserlichen wie Hasen, die ein Bauer auf seinem Stoppelfeld schoss.
Und du hast ihnen die Fee aus dem Weg geräumt, Jacob. Er kämpfte sich zu den Altarstufen vor, aber als er sie erreichte, sprang ihn einer der kaiserlichen Zwerge an. Jacob stieß ihm den Ellbogen in das bärtige Gesicht. Schreie, Schüsse, Blut auf Seide und Marmorfliesen. Die Kaiserlichen waren überall. Trotzdem schlugen die Goyl sich gut. Und Will und der König waren immer noch unverletzt, wie auch immer das möglich war. Es hieß, dass die Goyl ihre Haut vor Kämpfen zusätzlich durch Hitze und den Verzehr einer Pflanze härteten, die sie eigens dafür züchteten. Offenbar hatten sie ähnliche Vorkehrungen auch für die Hochzeit ihres Königs getroffen. Selbst Hentzau war wieder auf den Beinen. Doch auf jeden seiner Männer kamen mehr als zehn Kaiserliche.
Jacob schloss die Finger um den Goldenen Ball, aber es war unmöglich, ihn gezielt zu werfen. Will war umgeben von weißen Uniformen, und Jacob konnte kaum den Arm heben, ohne dass einer der Kämpfenden gegen ihn stolperte. Sie waren verloren. Sie alle. Will. Clara. Fuchs.
Ein weiterer Goyl fiel. Der nächste war Hentzau. Und schließlich stand nur noch Will vor dem König. Zwei Kaiserliche griffen Kami'en gemeinsam an. Will tötete sie beide, obwohl der eine ihm den Säbel tief in die Schulter stieß. Kami'en braucht ihn. Die Fee hatte es gewusst. Der Jadegoyl. Das Schild für ihren Geliebten. Sein Bruder.
Wills Uniform war feucht von Goyl- und Menschenblut, und der König kämpfte Rücken an Rücken mit ihm, aber sie waren umzingelt von weißen Uniformen. Bald würde auch die Goylhaut ihnen nicht mehr helfen.
Tu etwas, Jacob. Irgendetwas!
Jacob sah Fuchsfell zwischen den Bänken und Valiant, der auf dem Gang schützend vor einer geduckten Gestalt stand. Clara. Er konnte nicht erkennen, ob sie noch am Leben war. Gleich neben ihnen kämpfte ein Goyl gegen vier Kaiserliche. Und Therese von Austrien saß hinter den geschnitzten Rosen und wartete auf den Tod ihres Feindes.
Jacob kämpfte sich die Stufen hinauf. Donnersmarck stand immer noch neben der Kaiserin. Ihre Augen fanden sich. Ich habe dich gewarnt, sagte sein Blick.
Will wehrte drei Kaiserliche gleichzeitig ab. Das Blut lief ihm übers Gesicht. Blasses Goylblut.
Tu etwas, Jacob.
Ein Kaiserlicher stolperte gegen ihn, als er nach dem Taschentuch griff, und die Weidenblätter fielen einem der vielen Toten auf die Brust. Goyl und Menschen.
Auf wessen Seite stehst du, Jacob?
Aber er konnte nicht mehr an Seiten denken, nur an seinen Bruder. Und Fuchs. Und Clara. Er schaffte es, dem Toten die Blätter von der Brust zu klauben, und schrie den Namen der Fee in den Kampflärm.
Die Rinde schälte sich noch von ihren Armen, als sie plötzlich am Fuß der Altarstufen erschien, und ihr langes Haar war durchsetzt mit Weidenlaub. Sie hob die Hände, und Ranken aus Glas wuchsen um Will und ihren Geliebten. Sie ließen Kugeln und Säbel abprallen wie Spielzeug. Jacob sah, wie sein Bruder zusammenbrach und der König ihn in seinen Armen auffing. Die Dunkle Fee aber begann zu wachsen wie eine Flamme, in die der Wind führ, und aus ihrem Haar schwärmten die Motten, Tausende schwarzer Leiber, die sich auf Menschen- und Zwergenhaut setzten, wo immer sie sie fanden.
Die Kaiserin versuchte, mit ihren Zwergen zu fliehen. Aber sie brachen ebenso wie ihre Garden unter dem Angriff der Motten zusammen und schließlich fanden sie auch ihre Haut.
Menschenhaut. Fuchs trug ihr Fell, aber wo war Clara?
Jacob kam auf die Füße und sprang über die Toten und Verwundeten, deren Schreie und Stöhnen das Kirchenschiff füllten. Er stolperte die Altarstufen hinunter. Fuchs stand über Claras zusammengesunkener Gestalt und schnappte verzweifelt nach den Motten. Valiant lag neben ihr.
Die Fee loderte immer noch wie eine Flamme. Jacob schloss die Finger fester um die Blätter und stolperte an ihr vorbei. Sie wandte sich zu ihm um, als spürte sie den Druck seiner Finger auf der Haut.
»Ruf sie zurück!«, schrie er, während er neben Clara und Valiant auf die Knie fiel.
Der Zwerg regte sich noch, aber Clara war bleich wie der Tod. Weiß, rot, schwarz. Jacob scheuchte die Motten fort, die auf ihrer Haut saßen, und ließ die Blätter los, um sich die weiße Uniformjacke auszuziehen. Es war genug Blut darauf, um das Rot zu liefern, aber wo sollte er das Schwarz hernehmen? Die Motten ließen sich auf ihm nieder, als er die Jacke schützend über Clara legte. Mit letzter Kraft zerrte er einem Toten das schwarze Tuch vom Hals und schlang es ihr um den Arm. Flatternde Flügel und Stacheln, die sich wie Splitter ins Fleisch bohrten. Sie säten Taubheit, die nach Tod schmeckte. Jacob brach neben dem Zwerg zusammen und spürte Pfoten, die sich auf seine Brust stemmten.
»Fuchs!« Er brachte kaum noch einen Laut über die Lippen. Sie scheuchte ihm die Motten vom Gesicht, aber es waren zu viele.
»Weiß, rot, schwarz«, stammelte er, aber natürlich verstand sie nicht, wovon er sprach. Die Blätter ... Er tastete auf dem Boden nach ihnen, aber seine Finger waren wie Blei.
»Genug!«
Nur ein Wort, aber es kam von dem Einzigen, den die Dunkle Fee in ihrer Wut noch hörte. Die Stimme des Königs ließ die Motten aufwirbeln. Selbst das Gift in Jacobs Adern schien sich aufzulösen, bis nichts blieb außer bleierner Müdigkeit. Die Fee wurde wieder zur Frau und all ihr Schrecken verschwand unter ihrer Schönheit wie ein Messer in der Scheide.
Valiant rollte sich stöhnend auf die Seite, aber Clara rührte sich immer noch nicht. Sie schlug erst die Augen auf, als Jacob sich über sie beugte. Er wandte das Gesicht ab, damit sie nicht sah, wie erleichtert er war. Doch ihr Blick suchte ohnehin nur nach seinem Bruder.
Will war wieder auf den Füßen. Er stand hinter den Glasranken der Fee. Sie wurden zu Wasser, sobald Kami'en auf sie zutrat, und zerflossen auf den Fliesen, als wollten sie das Blut von den Altarstufen waschen.
Die Motten ließen sich auf den Körpern der toten und verwundeten Goyl nieder, und viele von ihnen begannen sich wieder zu regen, während die Dunkle Fee ihren Geliebten umarmte und ihm das blasse Blut vom Gesicht wischte.
Will zerrte die Kaiserin auf die Füße und schlug einen ihrer Zwerge nieder, als er sich ihm taumelnd in den Weg stellte. Drei andere Goyl trieben die Überlebenden aus den Bänken. Jacob sah sich suchend nach den Weidenblättern um, aber einer der Goyl zerrte ihn hoch und stieß ihn und Clara auf die Altarstufen zu. Fuchs huschte ihnen nach. Ihr Fell war immer noch das schützendste Kleid. Auch Valiant war wieder auf den Füßen und in einer der hintersten Bankreihen erhob sich eine schmale Gestalt. Weiße Seide, gesprenkelt mit Blut, und ein Puppengesicht, das trotz der Angst immer noch einer Maske glich.