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»Hentzau ist mehr tot als lebendig!«, zischte sie Jacob zu, während sie ihn mit sich zerrte. »Wieso lebst du immer noch?«

Sie stieß ihn über den Hof, vorbei an dem König, der mit Will neben den Kutschen stand und sich mit den zwei Offizieren besprach, die das Massaker überlebt hatten. Den Goyl blieb nicht viel Zeit. Bestimmt waren die Toten in der Kathedrale inzwischen entdeckt worden.

Die Dunkle Fee stand am Fuß der Treppe, die zum Fluss hinunterfuhrte. Der steinerne Arm eines Anlegers ragte ins Wasser, auf dem der Abfall der Stadt wie eine schmutzige Haut trieb. Aber die Fee blickte hinein, als sähe sie die Lilien, zwischen denen sie geboren worden war. Sie wird dich töten, Jacob.

»Lass mich mit ihm allein, Nesser«, sagte sie.

Die Goyl zögerte, aber schließlich warf sie Jacob einen hasserfüllten Blick zu und stieg die Treppe wieder hinauf.

Die Fee strich sich über den weißen Arm. Jacob sah Spuren von Baumrinde daran. »Du hast hoch gespielt und verloren.«

»Mein Bruder hat verloren«, gab Jacob zurück.

Er war so müde. Wie würde sie ihn töten? Mit ihren Motten? Durch irgendeinen Fluch?

Die Dunkle Fee blickte hinauf zu Will. Er stand immer noch neben Kami'en. Sie schienen mehr denn je zusammenzugehören.

»Er war alles, was ich erhofft habe«, sagte sie. »Sieh ihn an. All das Steinerne Fleisch. Nur für ihn gesät.« Sie strich über die Rinde an ihrem Arm.

»Ich werde ihn dir zurückgeben«, sagte sie. »Unter einer Bedingung. Bring ihn weit, weit fort, so weit, dass ich ihn nicht finden kann. Denn sonst werde ich ihn töten.«

Jacob konnte nicht glauben, was er hörte. Er träumte. Das war es. Irgendein Fiebertraum. Wahrscheinlich lag er immer noch in der Kathedrale und ihre Motten stießen ihm Gift unter die Haut.

»Warum?« Selbst das eine Wort brachte er kaum über die Zunge.

Warum fragst du, Jacob? Warum willst du wissen, ob es ein Traum ist? Wenn ja, dann ist es ein guter. Sie gibt dir deinen Bruder zurück.

Die Fee antwortete ihm ohnehin nicht.

»Bring ihn in das Gebäude neben dem Tor«, sagte sie und wandte sich wieder dem Wasser zu. »Aber beeil dich. Und nimm dich vor Kami'en in Acht. Er wird seinen Schatten nicht gern verlieren.«

Jaspis, Onyx, Mondstein. Jacob verfluchte seine Menschenhaut, während er mit gesenktem Kopf den Hof überquerte. Von den überlebenden Goyl wusste bestimmt kaum einer, dass sie ihm ihr Entkommen verdankten. Zum Glück bewachten die meisten die Geiseln oder kümmerten sich um die Verwundeten, und Jacob erreichte die Kutschen, ohne dass man ihn anhielt.

Kami'en stand immer noch mit seinen Offizieren zusammen, doch der Alabastergoyl war noch nicht zurück. Die Prinzessin trat auf ihren Ehemann zu und redete auf ihn ein, bis er sie ungeduldig mit sich zog. Will folgte dem König mit den Augen, aber er ging ihm nicht nach.

Jetzt, Jacob.

Wills Hand führ an den Säbel, sobald er zwischen den Kutschen hervortrat.

Wollen wir Fangen spielen, Will?

Sein Bruder stieß zwei Goyl aus dem Weg und begann zu rennen. Seine Wunden schienen ihn kaum zu behindern. Nicht zu schnell, Jacob. Lass ihn näher kommen, so, wie du es getan hast, als ihr noch Kinder wart. Zurück zwischen die Kutschen. An der Baracke vorbei, in die sie die Geiseln gesperrt hatten. Das nächste Gebäude war das neben dem Tor. Jacob stieß die Tür auf. Ein dunkler Flur mit vernagelten Fenstern. Die Lichtflecken auf dem schmutzigen Fußboden sahen aus wie verschüttete Milch. Im nächsten Raum standen noch die Betten für die Choleraopfer. Jacob versteckte sich hinter der offenen Tür. Wie damals.

Will führ herum, als er die Tür hinter ihm zuschlug, und für einen Atemzug zeigte sein Gesicht dieselbe Überraschung wie früher, wenn Jacob sich im Park hinter einem Baum versteckt hatte. Aber nichts in seinem Blick deutete darauf hin, dass er ihn erkannte. Der Fremde mit dem Gesicht seines Bruders. Den Goldenen Ball fing Will trotzdem. Die Hände hatten ihr eigenes Gedächtnis. Fang schon, Will! Der Ball verschluckte ihn wie der Frosch die Fliege und auf dem Hof blickte der steinerne König sich vergebens nach seinem Schatten um.

Jacob hob den Ball auf und setzte sich auf eines der Betten. Sein eigenes Gesicht blickte ihm aus dem Gold entgegen, verzerrt wie im Spiegel seines Vaters. Er konnte nicht sagen, was ihn an Clara denken ließ - vielleicht war es der Krankenhausgeruch, der immer noch zwischen den Mauern hing, so anders und doch derselbe wie in der anderen Welt -, aber für einen Moment, nur einen kurzen Moment, ertappte er sich dabei, dass er sich ausmalte, wie es wäre, den Goldenen Ball einfach zu vergessen. Oder ihn in die Truhe in Chanutes Gasthaus zu legen.

Was ist los mit dir, Jacob? Wirkt das Lerchenwasser immer noch? Oder hast du Angst, dass dein Bruder, selbst wenn die Fee ihr Versprechen hält, für immer der Fremde bleiben wird, dem der Hass auf dich das Gesicht entstellt?

Die Fee erschien so unvermittelt in der Tür, als hätte er sie mit seinen Gedanken herbeigerufen.

»Sieh an«, sagte sie und musterte den Goldenen Ball in Jacobs Händen. »Ich habe das Mädchen gekannt, das mit diesem Ball gespielt hat, lange bevor du oder dein Bruder geboren wart. Sie hat nicht nur einen Bräutigam damit gefangen, sondern auch ihre ältere Schwester und sie zehn Jahre nicht wieder hinausgelassen.«

Ihr Kleid wischte über den staubigen Boden, als sie auf Jacob zutrat.

Er zögerte, doch schließlich legte er ihr den Ball in die Hand. »Zu schade«, sagte sie, während sie ihn an die Lippen hob.

»Dein Bruder ist so viel schöner mit einer Haut aus Jade.« Dann hauchte sie auf die schimmernde Oberfläche, bis das Gold beschlug, und gab Jacob den Ball zurück.

»Was?«, fragte sie, als er sie zweifelnd ansah. »Du traust der falschen Fee.«

Sie trat so nah an ihn heran, dass er ihren Atem auf seinem Gesicht spürte.

»Hat meine Schwester dir gesagt, dass jeder Mensch, der meinen Namen ausspricht, des Todes ist? Er wird langsam kommen, wie es zur Rache einer Unsterblichen passt. Vielleicht bleibt dir noch ein Jahr, aber du wirst ihn schon bald spüren. Ich zeig ihn dir.«

Sie legte ihm die Hand auf die Brust und Jacob spürte einen stechenden Schmerz über dem Herzen. Blut sickerte ihm durchs Hemd, und als er es aufriss, sah er, dass die Motte auf seiner Haut zum Leben erwacht war. Jacob packte ihren angeschwollenen Leib, aber sie hatte die Krallen so tief in sein Fleisch geschlagen, dass es sich anfühlte, als risse er sich das eigene Herz aus der Brust.

»Man sagt, für Menschen fühlt die Liebe sich an wie der Tod«, sagte die Fee. »Ist das wahr?«

Sie zerdrückte die Motte auf Jacobs Brust und es blieb erneut nichts als ein Abdruck auf seiner Haut.

»Lass deinen Bruder heraus, sobald das Gold nicht mehr beschlagen ist«, sagte sie. »Es wartet eine Kutsche am Tor für dich und die, die mit dir gekommen sind. Aber vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Bring ihn so weit fort von mir, wie du kannst.«

52

UND WENN SIE NICHT GESTORBEN SIND

Der Turm und die verbrannten Mauern. Die frischen Spuren der Wölfe. Es schien, als wären sie eben erst aufgebrochen. Aber die Räder der Kutsche versanken in frisch gefallenem Schnee, als Jacob die Pferde zwischen den Bäumen anhielt.

Fuchs sprang aus der Kutsche und leckte sich das kalte Weiß von den Pfoten, während Jacob vom Kutschbock stieg und den Goldenen Ball aus der Tasche zog. Die Oberfläche war kaum noch beschlagen und der bewölkte Morgenhimmel spiegelte sich darin. Jacob hatte den Ball unterwegs so oft angesehen, dass Fuchs vermutlich längst erriet, was sich darin verbarg. Doch Clara hatte er noch nichts gesagt.