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Die Wände des Schankraums waren bedeckt mit Andenken an Chanutes ruhmreichere Tage: der Kopf eines Braunwolfs, die Ofentür aus einem Lebkuchenhaus, ein Knüppelausdemsack, der von der Wand sprang, wenn ein Gast sich nicht benahm, und, gleich über dem Tresen, aufgehängt an den Ketten, mit denen er seine Opfer gefesselt hatte, ein Arm des Menschenfressers, der Chanutes Schatzjägertage beendet hatte. Die bläuliche Haut schimmerte immer noch wie Echsenleder.

»Sieh an! Jacob Reckless.« Chanutes mürrischer Mund verzog sich tatsächlich zu einem Lächeln. »Ich dachte, du wärst in Lothringen, auf der Suche nach einem Stundenglas.«

Chanute war eine Legende als Schatzjäger gewesen, aber Jacob hatte inzwischen einen mindestens ebenso guten Ruf auf diesem Gebiet, und die drei Männer, die an einem der fleckigen Tische saßen, hoben neugierig die Köpfe.

»Werde deine Kundschaft los!«, raunte Jacob Chanute über den Tresen zu. »Ich muss mit dir reden.«

Dann stieg er hinauf zu der Kammer, die seit Jahren der einzige Ort war, den er in dieser oder der anderen Welt sein Zuhause nannte.

Ein Tischleindeckdich, ein Gläserner Schuh, der Goldene Ball einer Prinzessin - Jacob hatte schon vieles in dieser Welt gefunden und für viel Geld an Fürsten und reiche Händler verkauft.

Aber in der Truhe, die hinter der Tür der schlichten Kammer stand, bewahrte er die Schätze auf, die er für sich behalten hatte. Sie waren sein Handwerkszeug und Rettung in vielen Notlagen gewesen, aber Jacob hätte nie gedacht, dass sie ihm eines Tages würden helfen müssen, seinen eigenen Bruder zu retten.

Das Taschentuch, das er als Erstes aus der Truhe nahm, war aus einfachem Leinen, aber wenn man es zwischen den Fingern rieb, brachte es zuverlässig ein bis zwei Goldtaler hervor. Jacob hatte es vor Jahren von einer Hexe bekommen, für einen Kuss, der ihm noch Wochen auf den Lippen gebrannt hatte. Die anderen Dinge, die er in seinem Rucksack verstaute, sahen ebenso unscheinbar aus: eine silberne Schnupftabakdose, ein Schlüssel aus Messing, ein Zinnteller und ein Fläschchen aus grünem Glas. Doch jedes einzelne hatte ihm schon mindestens einmal das Leben gerettet.

Die Schankstube war leer, als Jacob die Treppe wieder herunterstieg, und Chanute saß an einem der Tische und schob ihm einen Becher Wein hin, sobald er sich zu ihm setzte.

»Also? Welchen Ärger hast du diesmal?« Chanute warf dem Wein einen begehrlichen Blick zu, aber er selbst hatte nur ein Glas Wasser vor sich stehen. Früher war er so oft betrunken gewesen, dass Jacob die Flaschen vor ihm versteckt hatte, obwohl Chanute ihn dafür jedes Mal verprügelt hatte. Der alte Schatzjäger hatte ihn oft geschlagen - auch wenn er nüchtern gewesen war -, bis Jacob eines Tages seine eigene Pistole auf ihn gerichtet hatte. Chanute war auch in der Höhle des Menschenfressers betrunken gewesen, und vermutlich hätte er seinen Arm behalten, hätte er damals geradeaus sehen können. Danach hatte er das Trinken aufgegeben. Der Schatzjäger war ein lausiger Vaterersatz gewesen, und Jacob war immer etwas auf der Hut vor ihm, aber wenn irgendjemand wusste, was Will retten konnte, dann war es Albert Chanute.

»Was würdest du tun, wenn einer deiner Freunde die Klauen der Goyl zu spüren bekommen hätte?«

Chanute verschluckte sich an seinem Wasser und musterte Jacob, als wollte er sichergehen, dass er nicht von sich selbst sprach.

»Ich hab keine Freunde«, grunzte er. »Und du auch nicht. Man muss ihnen trauen und darin sind wir beide nicht gut. Wer ist es?«

Aber Jacob schüttelte nur den Kopf.

»Ach ja. Jacob Reckless liebt es geheimnisvoll! Wie konnte ich das vergessen?« Chanutes Stimme klang bitter. Er hielt Jacob trotz allem für den Sohn, den er nie gehabt hatte. »Wann haben sie diesen Freund erwischt?«

»Vor vier Tagen.«

Die Goyl hatten sie unweit eines Dorfes angegriffen, in dem Jacob nach dem Stundenglas gesucht hatte. Er hatte unterschätzt, wie weit ihre Stoßtrupps schon in kaiserliches Gebiet vordrangen, und Will hatte nach dem Angriff solche Schmerzen gehabt, dass sie Tage für den Rückweg gebraucht hatten. Zurück, wohin? Es gab kein Zurück mehr, aber Jacob hatte nicht das Herz gehabt, Will das zu sagen.

Chanute fuhr sich durch das borstige graue Haar. »Vier Tage? Vergiss es. Dann ist er schon halb einer von ihnen. Erinnerst du dich noch an die Zeit, in der die Kaiserin sie in allen Farben gesammelt hat und dieser Bauer uns einen Toten als Onyx andrehen wollte, dem er die Mondsteinhaut mit Lampenruß gefärbt hatte?«

Ja, Jacob erinnerte sich. Die Steingesichter. So hatte man sie damals noch genannt und Kindern Geschichten über sie erzählt, um ihnen Angst vor der Nacht zu machen. Während er mit Chanute umherzog, hatten sie gerade begonnen, auch in Höhlen über der Erde zu hausen, und jedes Dorf hatte Goyl-Hetzjagden organisiert. Aber inzwischen hatten sie einen König und er hatte aus den Gejagten Jäger gemacht.

Neben der Hintertür raschelte es und Chanute zog sein Messer. Er warf es so schnell, dass er die Ratte im Sprung an die Wand nagelte.

»Diese Welt geht zugrunde«, knurrte er und schob den Stuhl zurück. »Die Ratten werden groß wie Hunde. Auf der Straße stinkt es wie in einer Trollhöhle von all den Fabriken und die Goyl stehen nur ein paar Meilen von hier.«

Er hob die tote Ratte auf und warf sie auf den Tisch.

»Es gibt nichts, was gegen das Steinerne Fleisch hilft. Aber wenn es mich erwischt hätte, würde ich zu einem Hexenhaus reiten und im Garten nach einem Busch mit schwarzen Beeren suchen.« Chanute wischte sich das blutige Messer am Ärmel ab. »Allerdings muss es der Garten einer Kinderfresserin sein.«

»Ich dachte, die wären alle nach Lothringen gezogen, seit nicht nur die Kaiserin, sondern auch die anderen Hexen sie jagen?«

»Aber ihre Häuser sind noch da. Die Büsche wachsen dort, wo sie die Knochen ihrer Opfer vergraben haben. Die Beeren sind das stärkste Gegenmittel gegen Flüche, von dem ich weiß.«

Hexenbeeren. Jacob musterte die Ofentür, die an der Wand hing. »Die Hexe im Schwarzen Wald war eine Kinderfresserin, oder?«

»Sie war eine der schlimmsten. Ich hab in ihrem Haus mal nach einem dieser Kamme gesucht, die dich in eine Krähe verwandeln, wenn du sie ins Haar steckst.«

»Ich weiß. Du hast mich vorgeschickt.«

»Tatsächlich?« Chanute rieb sich verlegen die fleischige Nase. Er hatte Jacob weisgemacht, dass die Hexe ausgeflogen war.

»Du hast mir Schnaps auf die Wunden gegossen.« Man sah die Abdrücke ihrer Finger immer noch an seinem Hals. Es hatte Wochen gedauert, bis die Brandwunden geheilt waren. Jacob warf sich den Rucksack über die Schulter. »Ich brauche ein Packpferd, Proviant, zwei Flinten und Munition.«

Aber Chanute schien ihn nicht gehört zu haben. Er starrte auf seine Trophäen. »Gute alte Zeiten«, murmelte er. »Die Kaiserin hat mich dreimal persönlich empfangen. Auf wie viele Male hast du es gebracht?«

Jacob rieb das Tuch in seiner Tasche, bis er zwei Goldtaler zwischen den Fingern fühlte.

»Zweimal«, sagte er und warf die Taler auf den Tisch. Er brachte es inzwischen auf sechs kaiserliche Audienzen, aber Chanute machte die Lüge sehr glücklich.

»Steck das Gold wieder ein!«, brummte er. »Ich nehme kein Geld von dir.« Dann hielt er Jacob sein Messer hin.

»Hier«, sagte er. »Es gibt nichts, was diese Klinge nicht zerschneidet. Ich hab so eine Ahnung, dass du sie nötiger brauchen wirst als ich.«

6

VERLIEBTER NARR

Will war fort. Jacob sah es, sobald er das Packpferd  durch das zerfallene Tor der Ruine führte. Sie lag so verlassen da, als wäre sein Bruder ihm nie durch den Spiegel gefolgt, als wäre alles gut und diese Welt immer noch sein, nur sein. Für einen Moment ertappte er sich dabei, dass er fast erleichtert war. Lass ihn gehen, Jacob. Warum nicht vergessen, dass er einen Bruder hatte?