Jeremy schüttelte den Kopf.»Es tut mir leid«, sagte er.
«Nicht nötig. Es ist lange her. Ich habe nie um meine Mutter getrauert. Jetzt denke ich, daß das vielleicht nicht ganz in Ordnung war, aber ich habe nicht getrauert.«
Aber um Charlie hatte ich getrauert. Kurz, aber intensiv, im Alter von fünfzehn Jahren. Und vage trauerte ich heute immer noch von Zeit zu Zeit. Ich benutzte Charlies Vermächtnis fast jeden Tag: ganz konkret in Form seiner Fotografenausrüstung, und abstrakt in der Anwendung des Wissens, das er mir vermittelt hatte. Mit jeder Aufnahme, die ich machte, dankte ich Charlie.
«Ich versuche es also mit den Fernsehleuten«, sagte Jeremy.
«O.k.«
«Und Sie besuchen Ihre Großmutter.«
«Ich denke schon«, sagte ich ohne Begeisterung.
Jeremy schmunzelte.»Wo können wir sonst noch suchen? Nach Amanda, meine ich. Wenn Ihre Mutter Sie überall abgeladen hat, dann hat sie es mit Amanda wahrscheinlich ebenso gemacht. Haben Sie daran schon gedacht?«
«Ja.«
«Und?«
Ich schwieg. All diese Leute. Alles so lange her. Chloe, Deborah, Samantha… alles Schatten ohne Gesichter. Ich würde keine erkennen, wenn sie ins Zimmer käme.
«Woran denken Sie?«wollte Jeremy wissen.
«Von den Leuten, bei denen ich abgegeben wurde, hatte niemand ein Pony. An ein Pony würde ich mich erinnern. Da, wo das Foto von Amanda gemacht wurde, war ich nie.«
«Aha, ich verstehe.«
«Und ich glaube nicht, daß sie dieselben Freunde genötigt hätte, auf ein zweites Kind aufzupassen. Ich selbst bin nur selten an denselben Ort zurückgekehrt. Meine Mutter hat die Last zumindest verteilt.«
Jeremy seufzte.»Das ist alles äußerst ungewöhnlich.«
Ich sagte langsam und widerstrebend:»Vielleicht finde ich einen Ort, wo ich mal gelebt habe. Ich könnte es versuchen. Aber selbst dann. wohnen da jetzt möglicherweise andere Leute, und außerdem wissen sie wohl kaum etwas über Amanda.«
Jeremy stürzte sich darauf.»Das ist eine Chance.«
«Eine sehr magere.«
«Aber einen Versuch wert.«
Ich trank etwas Champagner und sah nachdenklich durch die Küche zu George Millaces Abfallschachtel hinüber, die auf der Anrichte stand, und plötzlich nahm eine verschwommene Idee Gestalt an. Es war einen Versuch wert. Warum nicht?
«Sie sind ganz woanders«, sagte Jeremy.
«Ja. «Ich sah ihn an.»Sie können gern bleiben, aber ich möchte mich heute mit einem anderen Rätsel beschäftigen. Hat nichts mit Amanda zu tun. Eine Art Schatzsuche… aber vielleicht gibt es gar keinen Schatz. Ich will’s ganz einfach herausfinden.«
«Ich… ähm…«, setzte er zögernd an, und ich stand auf und nahm die Schachtel und stellte sie auf den Tisch.
«Sagen Sie mir, was Sie von dem Zeug hier halten«, sagte ich.
Er öffnete die Schachtel und wühlte sich durch den Inhalt, nahm Sachen heraus und legte sie wieder zurück. Seine erwartungsvolle Miene wurde immer enttäuschter, und er sagte:»Das ist… einfach nichts.«
«Mm. «Ich streckte die Hand aus und fischte den scheinbar leeren Filmstreifen heraus, der ungefähr sechs Zentimeter breit und achtzehn Zentimeter lang war.»Halten Sie den mal gegens Licht.«
Er nahm den Filmstreifen und hielt ihn hoch.»Da sind Flecken drauf«, sagte er.»Ganz schwache. Man kann sie kaum sehen.«
«Es sind Bilder«, sagte ich.»Drei Bilder auf einem Einszwanziger-Film.«
«Also. man kann nichts erkennen.«
«Nein«, stimmte ich zu.»Aber wenn ich behutsam vorgehe. und Glück habe. wird man vielleicht etwas erkennen.«
Er war erstaunt.»Wie das?«
«Mit chemischen Verstärkern.«
«Aber wozu? Was soll das bringen?«
Ich saugte an meinen Zähnen.»Ich habe etwas höchst interessantes in dieser Schachtel gefunden. All diese Sachen wurden von einem großen Fotografen aufbewahrt, der außerdem ein komischer Kauz war. Ich denke mir einfach, daß möglicherweise noch mehr von dem Zeug hier nicht der Abfall ist, nach dem es aussieht.«
«Aber… was davon?«
«Das ist die Frage. Was davon… wenn überhaupt.«
Jeremy nahm einen Schluck Champagner.»Bleiben wir doch bei Amanda.«
«Sie bleiben bei Amanda. Ich kenne mich besser mit Fotos aus.«
Er sah dennoch interessiert zu, wie ich in einem Schrank in der Dunkelkammer herumkramte.
«Das sieht alles schrecklich professionell aus«, sagte er und ließ seinen Blick über die Vergrößerungsapparate und den Color-Prozessor schweifen.»Ich hatte keine Ahnung, daß Sie sich mit so was beschäftigen.«
Ich erzählte ihm kurz von Charlie und fand schließlich, was ich suchte: eine etwas verstaubte Flasche, die ich vor drei Jahren bei einem Urlaub in Amerika erstanden hatte. Auf dem Etikett stand >Negativ-Verstärker<, darunter die Gebrauchsanweisung. Sehr hilfreich. Viele Hersteller druckten ihre Anweisungen auf dünne Extrazettel, die naß wurden oder verlorengingen. Ich trug die Flasche zum Ausgußbecken hinüber, wo am Wasserhahn ein Wasserfilter befestigt war.
«Was ist das?«fragte Jeremy und zeigte auf das bauchige Ding.
«Zum Entwickeln von Fotos braucht man extrem sauberes, weiches Wasser. Und die Wasserleitung darf nicht aus Eisen sein, sonst gibt es massenhaft kleine schwarze Flecken auf dem Abzug.«
«So was Verrücktes.«
«Nicht verrückt, gut durchdacht.«
In einem Plastikmeßbecher mischte ich Wasser und Verstärker in dem Lösungsverhältnis, das auf der Gebrauchsanweisung angegeben war, und schüttete die Flüssigkeit in die Entwicklerschale.
«Ich habe so was noch nie gemacht«, sagte ich zu Jeremy.»Vielleicht funktioniert es nicht. Möchten Sie zusehen, oder wollen Sie lieber bei dem Schampus in der Küche bleiben?«
«Ich bin… äh… total gefesselt, muß ich zugeben. Was genau haben Sie vor?«
«Ich will von diesem leeren Filmstreifen mit den kaum sichtbaren Flecken Kontaktabzüge auf ganz normales Schwarzweißpapier machen, um zu sehen, was dabei herauskommt. Und dann werde ich das Negativ ins Verstärkerbad legen und anschließend noch einen Schwarzweißabzug machen, um zu überprüfen, ob ein Unterschied zu sehen ist. Und dann… tja, das müssen wir abwarten.«
Er sah zu, wie ich im schwachen roten Licht arbeitete, und steckte die Nase dabei fast in den Entwickler.
«Da scheint sich nichts zu tun«, sagte er.
«Man muß ein bißchen herumprobieren«, gab ich zu. Viermal versuchte ich, einen Abzug von dem leeren Film zu machen, mit unterschiedlicher Belichtungszeit, aber auf dem Papier erschien nur ein einheitliches Schwarz oder ein einheitliches Grau oder ein einheitliches Weiß.
«Da ist nichts drauf«, sagte Jeremy.»Hat keinen Sinn.«
«Warten Sie, bis wir den Verstärker benutzt haben.«
Mit mehr Hoffnung als Zuversicht legte ich den durchsichtigen Filmstreifen ins Verstärkerbad und bewegte ihn erheblich länger darin als die angegebene Mindestzeit. Dann wässerte ich ihn und hielt ihn gegen das Licht: die kaum sichtbaren Flecken waren immer noch kaum sichtbar.