Dann rief ich Samantha an, was erheblich leichter war, und fragte, ob ich sie und Clare zum Abendessen ausführen dürfe. Ihre warme Stimme klang erfreut.
«Heute?«sagte sie.
«Ja.«
«Ich kann nicht. Aber Clare kann sicher. Sie wird sich freuen.«
«Wirklich?«
«Ja, Sie Dummkopf. Um wieviel Uhr?«
Ich sagte, ich würde sie gegen acht abholen, und Samantha sagte, prima und wie die Suche nach Amanda vorankäme, und ich ertappte mich dabei, wie ich mit ihr redete, als würde ich sie schon mein ganzes Leben lang kennen. Was ja in gewisser Weise auch zutraf.
Ich fuhr nach London zum Büro von Horse and Hound und machte mit dem Redakteur die Veröffentlichung von Amandas Foto fest, unter der Überschrift >Wo ist dieser Reitstall? Zehn Pfund Belohnung für die erste Person — und besonders für das erste Kind — das Philip Nore die Antwort telefonisch übermittelte
«Kind?«sagte der Redakteur mit hochgezogenen Augenbrauen, während er meine Telefonnummer dazuschrieb.»Lesen Kinder diese Zeitung?«
«Die Mütter lesen sie.«
«Trick siebzehn.«
Während er die Mappe mit den Porträts aus der Welt des Pferderennsports durchsah, die ich mitgebracht hatte, sagte er, daß sie eine Serie über Persönlichkeiten aus dem Pferderennsport starteten, für die er neue Bilder haben wollte, die nicht schon überall erschienen seien, und er könnte einige von meinen verwenden, wenn es mir recht sei.
«Ähm. ja.«
«Übliches Honorar«, sagte er beiläufig, und ich sagte» gut«, und erst nach einer kurzen Pause fragte ich ihn, wie hoch das übliche Honorar sei. Allein diese Frage, so erschien es mir, brachte mich einen Schritt näher an den Punkt, wo das Honorar genauso wichtig wurde wie die Fotos selbst. Übliches Honorar bedeutete eine Festlegung. Übliches Honorar hieß, daß man dem Verein beitrat. Ich fand es beunruhigend. Ich akzeptierte trotzdem.
Samantha war nicht zu Hause, als ich Clare abholte.
«Kommen Sie erst mal auf einen Drink rein«, sagte Clare und öffnete einladend die Tür.»Es ist ein lausiger Abend.«
Ich trat hinein aus dem Wind und dem kalten Novemberregen, und wir gingen nicht in die Küche hinunter, sondern in das langgestreckte, sanft erleuchtete Wohnzimmer im Erdgeschoß, das von der Vorder- bis zur Rückseite des Hauses reichte. Ich sah mich um, es sah gemütlich aus, aber nicht vertraut.
«Erinnern Sie sich an das Zimmer?«sagte Clare.
Ich schüttelte den Kopf.
«Wo ist das Badezimmer?«sagte sie.
Ich antwortete sofort:»Treppe rauf, dann rechts, blaue Ba…«
Sie lachte.»Direkt aus dem Unterbewußtsein.«
«Es ist wirklich seltsam.«
In einer Ecke stand ein Fernseher, in dem eine Sendung mit redenden Köpfen lief, und Clare ging hinüber und schaltete ihn ab.
«Lassen Sie nur, wenn Sie’s sehen wollen«, sagte ich.
«Es war bloß mal wieder ein Anti-Drogen-Vortrag. Lauter dozierende sogenannte Experten. Wie wär’s mit was zu trinken? Was wollen Sie? Es ist Wein da…«Sie hielt eine Flasche mit weißem Burgunder hoch, geöffnet, also einigten wir uns darauf.
«Irgendein selbstgefälliger kleiner Moderator hat gesagt, daß eine von fünf Frauen Beruhigungsmittel nimmt, aber nur einer von zehn Männern«, sagte sie beim Gläserfüllen.»Was besagt, daß die armen kleinen Frauen viel weniger in der Lage sind, mit dem Leben fertig zu werden, die schwachen kleinen Mäuschen. «Sie gab mir ein Glas.»Da kann man nur lachen.«
«Ach ja?«
Sie grinste.»Ich nehme an, es kommt den Ärzten, die die Rezepte verschreiben, nicht in den Sinn, daß die armen, schwachen kleinen Frauen diese Beruhigungsmittel ihren Ehemännern ins Essen streuen, wenn sie von der Arbeit nach Hause kommen.«
Ich lachte.
«Das machen sie nämlich«, sagte sie.»Diejenigen, die mit brutalen Mistkerlen verheiratet sind, die sie verprügeln, und diejenigen, die nicht zuviel Sex wollen. Sie mischen dem Rohling das hübsche geschmacklose Pulver ins Fleisch und Gemüse und führen ein ruhiges Leben.«
«Eine tolle Theorie.«
«Tatsache«, sagte sie.
Wir saßen in zwei hellen Samtsesseln und nippten an dem kühlen Wein. Sie trug eine rote Seidenbluse und schwarze Hosen und bildete damit einen leuchtenden Kontrast zu den dezenten Farben des Zimmers. Ein Mädchen, das kein Blatt vor den Mund nahm. Ein Mädchen voller Entschlußkraft und Sicherheit und geistiger Energie. Ganz anders als die sanften, anspruchslosen Mädchen, die ich gelegentlich zu mir nach Hause mitnahm.
«Ich habe Sie am Samstag reiten sehen«, sagte sie.»Im Fernsehen.«
«Ich dachte, das interessiert Sie nicht.«
«Natürlich interessiert mich das, seit ich Ihre Fotos gesehen habe. «Sie nahm einen Schluck.»Sie gehen ja fürchterliche Risiken ein.«
«Nicht immer so wie am Samstag. «Sie fragte, warum nicht, und sehr zu meinem Erstaunen erzählte ich es ihr.
«Du liebe Güte«, sagte sie entrüstet,»das ist nicht fair.«
«Das Leben ist nicht fair. Leider.«
«Was für eine düstere Philosophie.«
«Eigentlich nicht. Nimm, wie es kommt, aber hoffe auf das Beste.«
Sie schüttelte den Kopf.»Zieh los und such dir das Beste. «Sie trank und sagte:»Was passiert, wenn es Sie bei so einem Sturz mal richtig erwischt?«
«Man flucht.«
«Nein, Sie Dummkopf. Mit Ihrem Leben, meine ich.«
«So schnell wie möglich wieder auf die Beine kommen und zurück in den Sattel. Solange Sie draußen sind, schnappt sich ein anderer Jockey Ihre Ritte.«
«Reizend«, sagte sie.»Und wenn es so schlimm ist, daß man nicht mehr auf die Beine kommt?«
«Dann hat man ein Problem. Keine Rennen, kein Geld. Man fängt an, sich die Stellenanzeigen anzusehen.«
«Und was ist, wenn Sie draufgehen?«
«Nichts weiter«, sagte ich.
«Sie nehmen es nicht ernst«, beschwerte sie sich.
«Natürlich nicht.«
Sie studierte mein Gesicht.»Ich bin nicht an Leute gewöhnt, die an den meisten Tagen in der Woche so nebenbei ihr Leben aufs Spiel setzen.«
Ich lächelte sie an.»Das Risiko ist nicht so groß, wie Sie denken. Aber wenn man wirklich Pech hat, gibt es immer noch den Fonds für verletzte Jockeys.«
«Was ist das?«
«Das ist ein privater Wohltätigkeitsverein der Pferderennsportbranche. Er kümmert sich um die Witwen und Waisen toter Jockeys, unterstützt schwerbeschädigte und sorgt dafür, daß keiner im hohen Alter den Geist aufgibt, weil er keine Kohle zum Heizen hat.«
«Hört sich gut an.«
Etwas später gingen wir los und aßen in einem kleinen Restaurant, das gewaltsam auf französisches Landgasthaus getrimmt war, mit blankgescheuerten Holztischen, Binsenmatten auf dem Boden und auf Weinflaschen gesteckten tropfenden Kerzen. Das Essen erwies sich als ebenso unecht wie das Drumherum und hatte wohl nie einen pot au feu von innen gesehen. Clare schien es aber nichts auszumachen, und wir aßen Kalbfleisch aus der Mikrowelle in einer dicken weißen Soße und bemühten uns, nicht an die Kalbsragouts in Frankreich zu denken, wo auch sie schon oft gewesen war, allerdings im Urlaub und nicht bei Pferderennen.
«Sie reiten auch in Frankreich?«
«Nach Weihnachten, wenn es hier Frost gibt, besteht immer die Chance, daß man ein paar Rennen in Cagnes-sur-Mer bekommt. unten an der Südküste.«
«Das klingt herrlich.«
«Es ist trotzdem Winter. Und trotzdem Arbeit. Aber es ist nicht übel.«
Sie kam auf das Thema Fotografieren zurück und sagte, daß sie gerne noch einmal nach Lambourn kommen wolle, um die >Jockeyleben<-Mappe durchzugehen.