Wie immer in diesen Bereichen mußte ich dicht an ihm vorbei, um zur Tür des Waageraums zu gelangen. Er setzte standhaft seine Unterhaltung mit den Stewards fort und gab nur durch ein ganz leises Flackern seines Blicks in meine Richtung zu erkennen, daß er meine Anwesenheit bemerkt hatte.
Wenn er nicht mit mir reden wollte, war es mir nur recht. Weniger peinlich in jeder Hinsicht.
Im Waageraum stand Harold und erzählte einem alten Kumpel überschwenglich von einem Geschäft, wo man günstig neue Reifen bekam. Noch fast im gleichen Atemzug erzählte er mir, er würde auf meinen Sattel warten, wenn ich mich freundlicherweise schnell umziehen und wiegen würde, und als ich fertig umgezogen zu ihm zurückkam, war er immer noch bei Diagonal- und Gürtelreifen. Der Kumpel nutzte die Gelegenheit zu verduften, und Harold nahm meinen Sattel und das Aufgewicht und sagte mit hämischer Freude:»Hast du gehört, daß Dschingis-Khan rausgeflogen ist?«
Ich war ganz Ohr.
«Bist du sicher?«
Harold nickte.»Der alte Lanky…«, er zeigte auf den entschwindenden Kumpel,»hat’s mir, kurz bevor du gekommen bist, erzählt. Er sagt, sie haben heute morgen in London eine Art Krisensitzung des Jockey Clubs abgehalten. Er war dabei. Lord White hat sie gebeten, die Pläne für ein Komitee unter dem Vorsitz von den Relgan fallen zu lassen, und weil es in erster Linie ja die Idee vom Alten Schneesturm gewesen war, haben alle zugestimmt.«
«Immerhin etwas«, sagte ich.
«Immerhin?«Harold schaltete auf Empörung um.
«Mehr fällt dir dazu nicht ein? Das ist die beste Kehrtwendung seit dem Rückzug der Armada.«
Er stakste brummelnd und kopfschüttelnd mit meinem Sattel davon und ließ mich, ohne es zu wissen, überaus erleichtert zurück. Was immer mein Besuch bei Lord White bewirkt haben mochte, er hatte seinen wesentlichsten Zweck erfüllt. Zumindest hatte ich nicht ganz umsonst einen Mann, den ich mochte, in ein tiefes Chaos gestürzt, dachte ich dankbar.
Ich ritt einen Hurdler, der Zweiter wurde, was den Besitzer ungemein und Harold nicht sonderlich freute, und später ein Zwei-Meilen-Jagdrennen auf einer empfindlichen Stute, die eigentlich kein Herz für den Job hatte und gehätschelt werden mußte. Sie überhaupt über die Runden zu bringen war das Höchste, was man erwarten konnte; ein Erfolg, der von Harold mit einem Grunzen quittiert wurde. Da wir außerdem auf den vierten Platz kamen, deutete ich sein Grunzen als Anerkennung, aber da konnte man nie sicher sein.
Als ich meine Straßenkleidung wieder anzog, kam ein Offizieller in den großen, lärmenden Jockeyraum und brüllte nach hinten durch:»Nore, Sie werden verlangt.«
Ich zog mich fertig an, ging in den Waageraum hinüber und stellte fest, daß Lord White mich erwartete.
«Ich möchte mit Ihnen reden«, sagte er.»Kommen Sie hier in den Stewardraum. und schließen Sie bitte die Tür.«
Ich folgte ihm in das Zimmer neben dem Waageraum, das die Stewards für Untersuchungen an Ort und Stelle benutzten, und schloß wie gewünscht die Tür. Er stellte sich hinter einen der Stühle, die um den großen Tisch herum standen, und packte die Lehne mit beiden Händen, als wäre sie ein Schutzschild, eine Schranke, der Wall der Festung.
«Ich bedaure«, sagte er förmlich,»was ich Ihnen am Dienstag unterstellt habe.«
«Schon gut, Sir.«
«Ich war erregt… aber es war unentschuldbar.«
«Ich verstehe Sie gut, Sir.«
«Was verstehen Sie?«
«Nun. daß man ausschlagen will, wenn jemand einen verletzt.«
Er deutete ein Lächeln an.»Poetisch ausgedrückt, wenn ich so sagen darf.«
«Wäre das alles, Sir?«
«Nein. «Er zögerte nachdenklich.»Ich nehme an, Sie haben gehört, daß das Komitee abberufen ist?«
Ich nickte.
Er holte tief Luft.»Ich möchte den Relgan zum Austritt aus dem Jockey Club auffordern. Um ihn besser überreden zu können, habe ich vor, ihm diese Fotos zu zeigen, die er natürlich bereits kennt. Aber ich denke, daß ich Ihre Einwilligung dazu brauche, und um die möchte ich Sie hiermit bitten.«
Es geht also um Druckmittel, dachte ich und sagte:»Ich habe nichts dagegen. Bitte tun Sie damit, was Sie wollen.«
«Sind es. die einzigen Abzüge?«
«Ja«, sagte ich wahrheitsgetreu. Ich sagte ihm nicht, daß ich auch die Negative hatte. Er hätte sicher von mir verlangt, daß ich sie vernichtete, und dagegen wandte sich mein ganzer Instinkt.
Er ließ die Stuhllehne los, als brauchte er sie nicht mehr, und ging an mir vorbei zur Tür. Als er sie öffnete, hatte sein Gesicht wieder den vertrauten festen, untadeligen Ausdruck der Vor-Dana-Zeiten. Die grausame Kur war beendet, dachte ich.
«Ich kann Ihnen nicht gerade danken«, sagte er höflich,»aber ich stehe in Ihrer Schuld. «Er nickte mir flüchtig zu und verließ den Raum: Transaktion erledigt, Entschuldigung vorgebracht, Würde intakt. Schon bald würde er sich eifrig einreden, dachte ich, er hätte gar nicht empfunden, was er empfunden hatte, seine Vernarrtheit hätte gar nicht existiert.
Langsam verließ auch ich den Raum, zufrieden in vieler Hinsicht, auf vielen Ebenen, aber ob er das wußte, wußte ich nicht. Die größten Geschenke sind nicht immer die, die ausdrücklich gemacht werden.
Von Marie Millace erfuhr ich mehr.
Sie war nach Newbury gekommen, um Steve reiten zu sehen, dessen Schlüsselbein wieder verheilt war, obwohl sie, als ich sie zu einer Tasse Kaffee überredete, zugab, daß es eine Qual sei, den eigenen Sohn über Hürden rasen zu sehen.
«Alle Jockeyfrauen sagen, daß es schlimmer ist, wenn ihre Söhne anfangen«, sagte ich.»Töchter auch, möchte ich behaupten.«
Wir saßen an einem kleinen Tisch in einer Bar, umgeben von Leuten in schweren Mänteln, die nach kalter, feuchter Luft rochen und in der Wärme leicht zu dampfen schienen. Marie schob automatisch den Haufen aus Tas-sen und Sandwichpapieren beiseite, den die vorigen Gäste zurückgelassen hatten, und rührte nachdenklich in ihrem Kaffee.
«Sie sehen besser aus«, sagte ich.
Sie nickte.»Ich fühle mich auch besser.«
Sie war beim Friseur gewesen, wie ich sah, und hatte sich neue Kleidung zugelegt. Immer noch blaß, mit verschwommenen, kummervollen Augen. Immer noch zerbrechlich, dünnhäutig, mit zittriger Stimme, Tränen unter Kontrolle, aber nicht weit. Vier Wochen nach Georges Tod.
Sie nippte an dem heißen Kaffee und sagte:»Sie können vergessen, was ich Ihnen letzte Woche über die Whites und Dana den Relgan erzählt habe.«
«Ach ja?«
Sie nickte.»Wendy ist hier. Wir haben vorhin einen Kaffee zusammen getrunken. Sie ist sehr viel glücklicher.«
«Erzählen Sie mir davon«, sagte ich.
«Interessiert Sie das denn? Bin ich nicht zu geschwätzig?«
«Es interessiert mich sehr«, versicherte ich ihr.
«Sie sagte, daß ihr Mann letzten Dienstag, irgendwann letzten Dienstag, irgend etwas über Dana den Relgan erfahren hat, was ihm nicht gefiel. Sie weiß nicht, was. Er hat es ihr nicht erzählt. Aber sie sagt, er war den ganzen Abend wie ein Zombie, bleich und mit starrem Blick und völlig unansprechbar. Sie wußte nicht, was los war, da noch nicht, und war ziemlich erschrocken. Er schloß sich den ganzen Mittwoch ein, aber am Abend sagte er ihr, seine Affäre mit Dana den Relgan sei beendet, und er sei ein Narr gewesen und ob sie ihm verzeihen könnte.«
Ich hörte zu, erstaunt, daß Frauen solchen Klatsch so unbekümmert weitergaben, und erfreut, daß es so war.
«Und was dann?«sagte ich.
«Sind Männer nicht sonderbar?«sagte Marie Millace.»Danach hat er so getan, als wäre das Ganze nie passiert. Wendy sagt, daß er, nachdem er gebeichtet und sich entschuldigt hat, erwartet, daß sie so weitermacht wie vorher, als hätte er sie nie betrogen und mit diesem elenden Mädchen geschlafen.«